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Kinder des Vandros 1: Der Aschenbursche

Der neue Fantasy-Roman von J.B. Hofeditz

Ab sofort im Handel – als E-Book oder Taschenbuch.

Taschenbuch 13,99€ ISBN 9783769311631

E-Book bis zum 12.12. zum Einführungspreis von 3,99€ (danach 4,99€) ISBN 9783769331745 

Wie lang kann ein Winter dauern? Diese Frage stellt sich Leo schon seit Jahren – seit er nach dem Tod seiner Mutter wie ein Sklave im Haus seines Stiefvaters schuften muss, gepiesackt von seinen Stiefschwestern und vergessen vom Rest der Welt.
Als Leo sich zum Winterbeginn ein Herz fasst und eine Kerze vom Tempel des Winterheiligen Vandros erbittet, ändert sich alles. Der Vandrospriester zeigt ein ungewöhnliches Interesse an Leo und bietet ihm Hilfe an. Eine Fee purzelt plötzlich in Leos Leben und sorgt für Wirbel, und dann ist da auch noch der geheimnisvolle Fremde vom Markt, der sich nicht von Leos Schwestern um den Finger wickeln lässt und in Leo mehr zu sehen scheint als nur einen niederen Diener.
Doch eins hat Leo in den letzten Jahren gelernt: Aus dem Haus seines Stiefvaters gibt es kein Entkommen.

Nicholas kennt seinen Platz in der Welt: Als Enkel des Königs wird er irgendwann über Ostris herrschen, heiraten und den nächsten Nikolaus zeugen – auch wenn ihn das weibliche Geschlecht noch nie sonderlich gereizt hat.
Eine Wette mit seinem Onkel könnte diese ferne Zukunft schneller Wirklichkeit werden lassen, als ihm lieb ist. Denn plötzlich muss er sich als einfacher Mann ausgeben, wenn er nicht auf dem nächsten Frühlingsball verheiratet werden will.
Mit einer Frau.

Prolog

Ein kleines Boot schaukelte einsam in der Bucht der Toten. Es zog und zerrte an seinem Tau, als könne es gar nicht erwarten, die weite Reise anzutreten. Etliche Menschen hatten sich am Ufer versammelt, um dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen. Er war ein beliebter und geachteter Mann gewesen und nicht nur die Menschen aus Arden, der Hauptstadt von Ostris, trauerten um ihn.

Ein kleiner Junge stand mit seiner Mutter in vorderster Reihe, den Blick fest auf das kleine Boot gerichtet, in dem sein Vater lag, kalt und leblos. Vater sah überhaupt nicht so aus, wie er gewesen war, sondern war bleich und starr. Wie eine Puppe.

Der Junge warf eine Blume in das kleine Boot, als seine Mutter ihn anstupste. Mehr Blumen folgten. So viele Blumen, dass der Leichnam darunter bald nicht mehr zu sehen war.

Der Priester sprach noch ein paar Worte. Er war ein junger Mann. Jünger noch als der Vater des Kindes und sah diesem sogar ein wenig ähnlich, wenngleich sein Haar fast weiß wirkte, als hätte die Sonne Ardens jegliche Farbe ausgeblichen, wohingegen der Vater des Jungen rötliches Haar und einen dichten Bart gehabt hatte.

Der Priester löste die Leine, mit der das Boot am Ufer vertäut war, ehe er sich zu voller Größe aufrichtete und die Arme hob. »Mögen dich die Heiligen auf deiner letzten Reise begleiten und sicher ins Heilige Land bringen.«

Der Junge staunte nicht schlecht, als das Boot an Fahrt aufnahm und auf schnurgerader Linie durch die Wellen schoss, der aufgehenden Sonne entgegen. Der Junge starrte dem Boot nach, bis er blinzeln musste, und als er die Augen rasch wieder aufriss, konnte er das Boot nirgends ausmachen.

Ein bleiernes Gewicht bildete sich in seinem Bauch. Dies war eine Reise, von der Vater nicht zurückkehren würde.

»Mama?« Der Junge zupfte am Umhang seiner Mutter. »Wo ist das Heilige Land?«

Die Mutter zog den Jungen enger an sich. »Es liegt weit im Osten. Es ist das Land, aus dem die Heiligen einst kamen.«

»Warum können wir Vater nicht dorthin begleiten?«

»Weil es noch nicht unsere Zeit ist, mein Schatz.«

Der Junge legte den Kopf in den Nacken, um zu seiner Mutter aufzublicken. »Heißt das, wir werden auch irgendwann dorthin reisen?«

»Ja, mein Löwe, das heißt es«, sagte die Mutter mit erstickter Stimme.

»Ist Vater dann wieder lebendig?«, fragte der Junge leise. Er war nicht dumm. Er wusste, dass Vater gestorben war und nicht einmal die Magie der Priester einen Toten wieder lebendig machen konnte. Doch die Rede des Priesters und auch Mutters Worte klangen so, als wäre dieses Heilige Land ein besonderer Ort, an dem alles möglich war. Warum sonst sollten sie Vaters Leichnam dorthin schicken?

Die Mutter sah den Jungen mit großen Augen an und blieb stumm.

»Er ist nicht lebendig, so wie du und ich lebendig sind«, sagte da der Priester, der sich unbemerkt genähert hatte. Er kniete vor dem Jungen nieder und obwohl seine Augen von einem hellen Eisblau waren, wirkten sie doch warm und freundlich. »Aber er lebt fort und eines Tages wirst du wieder mit ihm vereint sein.«

»Oh«, machte der Junge nur und starrte über das Wasser, wo nichts mehr von dem kleinen Boot zu sehen war. »Wann?«

Die Mutter schluchzte.

»Nachdem du ein sehr langes und erfülltes Leben gelebt hast«, sagte der Priester sanft, die Augen voller Mitgefühl.

»Oh«, machte der Junge wieder und seine Schultern sackten herab. Es würde noch ewig dauern, bis er seinen Vater wiedersah. Was sollten sie ohne ihn tun? Wer würde nun all seine Fragen beantworten? Vater hatte ihm versprochen, ihm beizubringen, wie man Kaninchen mit dem Bogen schoss.

»Hab es nicht so eilig, erwachsen zu werden«, sagte der Priester leise. Er trug Handschuhe, bemerkte der Junge. Weiße Handschuhe, die so weiß wie seine Haut waren, und aus der Nähe sahen seine Augen so aus wie das Eis, das sich im Winter auf den kleinen Tümpeln im Wald bildete.

»Warum nicht?«, fragte der Junge. Elf war ohnehin schon fast erwachsen, fand er. Wahrscheinlich würde er nun Vaters Platz einnehmen und für seine Mutter sorgen müssen.

Der Priester lächelte. »Erwachsen wirst du schnell genug. Die Kindheit bekommst du nicht mehr zurück.«

Der Junge fand, dass das recht unsinnig klang. Warum sollte er seine Kindheit behalten wollen, wenn nur die Erwachsenen die wirklich interessanten Dinge tun konnten? Doch das sagte er dem Priester nicht, sondern nickte nur ernst, so wie Vater es tun würde.

Der Priester erhob sich und wechselte ein paar Worte mit Mutter. Er bot ihr die Hilfe des Tempels an, sollte sie irgendetwas brauchen.

Der Junge straffte die Schultern. Mutter hatte ihn. Das würde genügen.

Kapitel 1

Leo war gerade dabei, den Herd auszubürsten und von der alten Asche zu reinigen, als es hinter ihm einen dumpfen Schlag gab, gefolgt von einem prasselnden Geräusch. Er erstarrte mit der Bürste in der Hand, dann fuhr er so schnell zurück, dass er sich den Kopf am Herd anschlug, und wirbelte herum.

»Oooh, wie dumm von mir«, flötete seine Schwester Cordelia mit gespielter Reue. »Heilige Ruïr, Asche, da musst du wohl wieder ganz von vorn anfangen.« Sie kicherte hinter vorgehaltener Hand, warf ihm einen hämischen Blick zu, ehe sie auf dem Absatz kehrtmachte und die Treppe hinauflief, während sie ihr Lieblingslied sang: »Aschenbursche, schwarz wie’n Schwein, lass ihn bloß ins Haus nicht rein.«

Leo starrte wie betäubt auf die Linsen und Erbsen, von denen einige noch immer durch die Küche kullerten und in den Ritzen zwischen den Bodenplatten hängen blieben. Er hatte die Linsen gerade erst sorgsam ausgelesen und den Sack an der Tür stehen lassen. Neben dem Sack mit den Erbsen, die er heute Morgen ausgelesen hatte. Es würde Stunden dauern, um alles wieder zu sortieren.

Leo rieb sich mit einer zitternden Hand über das Gesicht und bemerkte erst dann, dass seine Hand voll Ruß war, den er sich nun ins Gesicht geschmiert hatte.

Aschenbursche schwarz wie’n Schwein, hallte es durch seinen Kopf, in dem sich ein dumpfes Pochen eingenistet hatte. Er widerstand dem Drang, sich mit den schmutzigen Händen die Stelle zu reiben, die er sich angeschlagen hatte. Stattdessen schloss er die Augen und wünschte sich weit, weit weg.

Warum? Warum konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Was hatte Cordelia überhaupt hier unten zu suchen gehabt? Heiße Tränen brannten in seinen Augen, doch er kniff sie nur noch fester zusammen, ballte die Hände zu Fäusten und schluckte den ganzen Ärger und die ohnmächtige Wut herunter.

Wie jedes Mal.

Und wie jedes Mal atmete er einige Male tief durch, wusch sich die rußigen Hände gründlich und kniete sich auf den Boden, um das Durcheinander zu beseitigen, das seine Schwestern hinterließen.

Du bist ein Diener, erinnerte er sich wieder und immer wieder, während er die Erbsen und Linsen auflas und in die Säcke zurückwarf. Ein Diener tut still seine Arbeit.

»Wie sieht es denn hier aus?«

Leo hielt den Kopf gesenkt. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Vater. »Es tut mir leid, Vater«, sagte Leo hastig. »Ich räume alles wieder auf.« Es hatte keinen Sinn, ihm zu sagen, dass es Cordelia gewesen war. Vater würde ihm doch kein Wort glauben und ihn nur wieder für seine angeblichen Ausreden bestrafen. Besser, Leo hielt den Mund.

Er keuchte, als ihn eine harte Hand am Hinterkopf traf. »Dummkopf. Als hätte ich nicht schon genug Ärger mit dir. Dass du darüber nicht deine anderen Aufgaben vernachlässigst, hast du mich verstanden?«, donnerte Vater. »Und wasch dich gefälligst, du bist ganz schmutzig!«

»Ja, Vater«, erwiderte Leo kleinlaut.

Ein weiterer Schlag auf den Hinterkopf folgte, bevor sein Vater aus der Küche marschierte und Leo sich einen zittrigen Atemzug erlaubte.

Er rieb sich den schmerzenden Schädel. Vater hatte längst nicht so hart zugeschlagen, wie er es manchmal tat, aber er hatte die Stelle getroffen, die Leo sich vorher schon angeschlagen hatte. Dabei hatte Leo nichts falsch gemacht. Es war alles so furchtbar ungerecht.

Er bohrte die Fingernägel in die Handfläche und drängte das Schluchzen, das seine Kehle emporsteigen wollte, mit Macht wieder herunter. Er hatte sich geschworen, nie wieder zu weinen, und er würde ganz sicher nicht über ein paar verschütteten Erbsen und Linsen damit anfangen. Es dauerte viel zu lange, bis er sich halbwegs im Griff hatte und seine Augen wieder trocken waren. Seufzend klaubte er eine weitere Handvoll Linsen vom Boden und ließ sie in den Sack rieseln. Besser, er beeilte sich.

Nach über fünf Jahren, die er wie ein Sklave in Haus Silberschild geschuftet hatte, sollte er wahrhaftig an die Streiche seiner beiden Stiefschwestern gewöhnt sein. Doch in Momenten wie diesen, wenn sich alles gegen ihn verschworen zu haben schien, traf ihn die Ungerechtigkeit seiner Situation mit solcher Wucht, dass er hätte platzen können. Das Haus sollte ihm gehören, nicht diesem Usurpator! Wenn Mutter nur nicht dieses Ungeheuer geheiratet hätte! Wenn, wenn, wenn …

Leo seufzte. Gedanken wie diese halfen rein gar nichts. Gedanken wie diese, so hatte er leidvoll erfahren müssen, brachten nur Ärger und Schmerz. Leo war ein niederer Diener, der niedrigste im Hause Silberschild. Damit musste er sich abfinden.

Vandros steh mir bei, betete er im Stillen. Ein Gebet, das ihn seit dem Tod seiner Mutter begleitete. Seit sich alles geändert hatte.

Irgendwann muss dieser Winter doch enden, oder?

Der Gedanke schlich sich unbemerkt heran. Leo schloss die Augen, holte tief Luft und schüttelte den Kopf, um den verräterischen Gedanken zu verbannen. Hoffnung war gefährlich. Und Vandros, der Heilige des Winters, sah es sicherlich nicht gern, wenn seine Kinder sich so undankbar zeigten. Leo hatte ein Dach über dem Kopf und ausreichend zu essen. Nicht jeder in Arden hatte so viel Glück.

Vandros verzeih mir.

Es half nichts, das Ende des Winters herbeizusehnen. Der Winter dauerte so lange, wie er eben dauerte. Und wenn das für den Rest von Leos Leben war, dann musste er sich damit abfinden.

Das leise Flattern von kleinen Flügeln riss Leo aus seinen düsteren Gedanken und ließ ihn von seiner sinnlosen Arbeit aufblicken. Zwei kleine Spatzen hatten sich auf dem Fenstersims niedergelassen und starrten Leo mit ihren kleinen Knopfaugen neugierig an. Leo starrte überrascht zurück. Vögel waren die Boten der Ruïr, der Heiligen des Frühlings. Hatte sie ihm die Spatzen als Gesellschaft geschickt?

»Seid ihr hier, um mir zu helfen?«, fragte Leo und kam sich im nächsten Augenblick lächerlich vor, dass er nun schon so verzweifelt war, dass er mit den Vögeln sprach.

Die Spatzen zwitscherten keck und beobachteten ihn aus ihren schwarzen Knopfaugen, während ihre kleinen Köpfchen hin und her zuckten.

»Es gibt hier leider keine Würmer«, sagte Leo, während er die nächste Handvoll Erbsen und Linsen zurück in die Säcke sortierte. »Nur Linsen und Erbsen«, setzte er bitter hinzu.

Die Vögel zwitscherten und hüpften auf dem Fensterbrett auf und ab. Leo beobachtete sie einen Augenblick, dankbar, dass sie gekommen waren, dann kam er mit knackenden Knien auf die Füße und holte eine Handvoll Körner aus der Speisekammer. Es schadete nie, Ruïrs Boten ein wenig Gastfreundschaft zu erweisen. Vielleicht hatte die Heilige des Frühlings ja Mitleid mit Leo. Die Spatzen flogen davon, als Leo sich dem Fenstersims näherte und die Körner auf der Fensterbank verteilte. Kaum dass Leo sich umgedreht hatte, kamen die Spatzen zu seiner Erleichterung zurück und brachten sogar noch zwei Blaumeisen mit.

Leo musste unwillkürlich lächeln, als sich die kleinen Vögel genüsslich über die Körner hermachten. »Lasst es euch schmecken«, murmelte er und wurde mit einem fröhlichen Zwitschern belohnt.

Leo lachte leise. »Gern geschehen. Lasst euch nur nicht von der Köchin erwischen. Die hat nichts für Vögel übrig und würde euch mit dem Besen verscheuchen.«

Die Vögel zwitscherten unbekümmert, während sie ihre Körner aufpickten. Leo sah ihnen zu und verspürte einen Anflug von Neid, dass sie sich um nichts Sorgen machen mussten und einfach davonfliegen konnten, wenn ihnen der Sinn danach stand. Er wandte sich wieder den verstreuten Linsen und Erbsen zu, die bis in die hintersten Ecken der Küche gekullert waren.

Vielleicht konnte Leo in diesem Jahr eine Vandroskerze vom Tempel erbitten. Der Winter würde bald beginnen und als Junge hatte Leo das Entzünden der Kerze zum Vandrosfest immer geliebt. Der Tempel hatte so viele Kerzen, sicherlich würden die Priester eine entbehren können. Vielleicht würde das zumindest den Winter ein wenig erträglicher machen.

Vandros steh mir bei.

Kapitel 2

Die Mahlzeiten im Palast waren immer eine laute und überaus wilde Angelegenheit.

Wenn die ganze Familie zusammenkam, reichte die große Tafel im Familienspeisesaal, die fünfzig Plätze bot, längst nicht mehr aus. Glücklicherweise waren sie selten vollständig, denn nicht alle Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen wohnten im Palast. Nicholas war den Trubel gewöhnt, dennoch wünschte er sich bisweilen, dass einige seiner Verwandten mit weniger lauten Stimmen gesegnet wären. Tante Agathe, die am anderen Ende der langen Tafel saß, erzählte gerade Cousin Hilmar, der aus dem Süden zu Besuch war, wie sie einen Berglöwen in den Rothusbergen erlegt hatte. Mit eigenen Händen, wenn man ihrer ausschweifenden Erzählung Glauben schenken wollte. Nicht einmal das Dessert konnte sie dazu verführen, den Mund zu halten.

»Eh, Nicolai!«, rief Großvater mit lauter Stimme, sodass sogar Tante Agathe kurz stockte, und stieß Vater, der sich gerade eine große Portion Erdbeerpudding auf den Teller geschaufelt hatte, in die Seite. »Vielleicht solltest du weniger Pudding essen und öfter mit mir auf die Jagd gehen! Mehr Muskeln würden dir gut zu Gesicht stehen.« Der gesamte Tisch brach in schallendes Gelächter aus.

Vater, der gegenüber von Nicholas saß, erstarrte kurz, legte den Puddinglöffel zurück in die Schüssel und gab Großvater ein schmales Lächeln. »Aber Vater, wer kümmert sich dann um deine Staatsgeschäfte, wenn ich ebenfalls auf der Jagd bin?«

»Wozu habe ich Sekretäre, Niki?« Großvater lachte laut.

»Ja, wozu nur«, hörte Nicholas Vater leise murmeln.

Großvater, obwohl er Vater näher war als Nicholas, schien die Worte entweder nicht zu hören oder Vater schlichtweg zu ignorieren.

»Es ist nicht richtig!«, rief Seraphina, die zu Nicholas’ Linken saß, in dem Moment, sodass Nicholas seine Aufmerksamkeit unwillkürlich auf sie richtete. »Wir sind alle nur aufgeblasene Schnösel, die keine Ahnung vom wahren Leben haben!«

Nicholas blinzelte und fragte sich, wie um alles in der Welt seine Schwester zu dieser Erkenntnis gelangt war und was Onkel Ludwig, der auf ihrer anderen Seite saß, wohl mit ihr besprochen hatte. Seraphina war zwölf! Sie sollte sich Gedanken über Ponys und Frisuren machen, nicht über Politik und gesellschaftliche Verhältnisse. Nicholas wollte sich gar nicht ausmalen, über was sie diskutieren würde, wenn sie erwachsen war. Die Heiligen mochten ihnen beistehen, wahrscheinlich würde sie ganz Ostris auf den Kopf stellen.

»Ho, Seraphina, so kannst du das nun wirklich nicht sagen«, protestierte Onkel Karl, einer von Vaters Brüdern, der gegenüber von Onkel Ludwig saß. »Nimm deinen Onkel Theresias hier.« Er klopfte dem rothaarigen Mann zu seiner Linken auf die Schulter. »Er ist sogar mit einem Diener verheiratet.«

Onkel Theresias, der jüngste von Vaters Brüdern und der einzige mit flammend rotem Haar, hob abwehrend die Hände. »Oh nein, Karl, lass mich mal schön aus dieser Diskussion heraus.«

»Alban zählt nicht, er war Sekretär und hat seit der Hochzeit nicht mehr gearbeitet«, wandte Seraphina ein.

Onkel Theresias hob überrascht die Brauen und auch Nicholas konnte sein Erstaunen darüber, was seine kleine Schwester alles wusste, kaum verbergen.

»Du bist gut informiert«, sagte Vater mit einem anerkennenden Lächeln.

Seraphina zog verlegen den Kopf ein. »Ich bin nicht dumm.«

»Das hat auch niemand behauptet«, versicherte Mutter, die es wieder einmal geschafft hatte, zu Großvaters Rechten auf dem Platz, der traditionell dem Kronprinzen vorbehalten war, zu sitzen. Nicht, dass sich in dieser Familie irgendjemand groß um Tischordnungen oder Traditionen scherte. Vater saß neben ihr, steif und mit steinerner Miene, ein scharfer Kontrast zu dem Rest der Familie. Wahrscheinlich war er der Ansicht, dass wenigstens er für Anstand am Tisch sorgen musste.

»Wenn Alban nicht zählt, was zählt für dich dann, Seraphina?«, hakte Onkel Theresias nach.

»Richtige Arbeit mit den Händen«, erwiderte Seraphina mit blitzenden Augen. »Wer von euch kann ein Brot backen, hm? Für die Hälfte meiner dummen Kleider brauche ich eine Zofe, um sie an- und auszuziehen! Es ist völlig lächerlich!«

»Seraphina!«, sagte Vater scharf.

»Oh, nein, nein, lass das Kind ausreden, Niki«, ging Onkel Ludwig dazwischen.

Seraphina richtete ihren Blick plötzlich auf Nicholas. »Wann hast du dich das letzte Mal mit einem einfachen Mann unterhalten, hm?«

»Ich habe Wilhelm!«, wandte Nicholas ein.

»Wilhelm zählt nicht. Er wird dafür bezahlt, dir Gesellschaft zu leisten«, sagte Seraphina und löffelte ihren Pudding.

»He!«, protestierte Nicholas.

»Die Kleine hat recht«, warf Onkel Ludwig ein.

»Ich bin nicht klein!«, rief Seraphina aufgebracht.

»Im Vergleich zu mir schon, mein Schatz«, erwiderte Onkel Ludwig mit einem Augenzwinkern, das seine buschigen Augenbrauen fröhlich wackeln ließ.

»Vielleicht bin ich kleiner, aber ich weiß mehr über das Leben als ihr!«, gab Seraphina hitzig zurück.

»Hört, hört!«, rief Onkel Theresias und hob seinen Weinkelch.

Nicholas lachte. »Du bist zwölf! Was weißt du schon vom Leben?«

Nicholas war ein wenig überrascht, dass er nicht Feuer fing, als ihn Seraphinas brennender Blick traf. »Und was weißt du? Du kannst dich ohne Wilhelms Hilfe nicht einmal anziehen. Und wann hast du das letzte Mal einen Kuchen in der Stadt gekauft, hm? Ohne dass sich gleich alle verbeugen und dir jeden Kuchen nachwerfen, weil es Prinz Nikolaus ist.«

»Ich kann mich sehr wohl alleine anziehen!«, widersprach Nicholas. »Und niemand wirft mir Kuchen nach.«

»Ach ja?«, sagte Seraphina spitz.

»Was hältst du von einer Wette?«, schlug Onkel Theresias mit einem Funkeln in den Augen vor.

»Theresias! Lass meinen Sohn in Ruhe«, protestierte Vater.

»Ach komm, Niki, dein Sohn ist alt genug, dass er für sich selbst sprechen kann,« rief Onkel Ludwig so laut, dass sich etliche Köpfe zu ihm umdrehten. »Wir waren in seinem Alter schon alle glücklich verheiratet. Seraphina hat recht, du verhätschelst ihn.«

Vater knallte seinen Löffel auf den Tisch. »Das tue ich nicht und das weißt du genau.«

»Jungs!«, rief Großvater. »Benehmt euch.«

Vater warf Großvater einen wütenden Blick zu und verschränkte die Arme vor der Brust, doch ehe er antworten konnte, krähte Tante Sophie von der Mitte der Tafel: »Nikolaus ist verheiratet? Wird auch langsam Zeit!« Sie war das mit Abstand älteste Familienmitglied und eigentlich Nicholas’ Urgroßtante, doch jeder nannte sie nur Tante, selbst Großvater.

»NEIN, TANTE SOPHIE!«, brüllte Cousin Rudolph, der ihr gegenüber saß. »ABER WIR HOFFEN ALLE, ER WIRD BALD HEIRATEN!«

Tante Sophie musterte Rudolph aus zusammengekniffenen Augen. »Du hast gut reden, Rudolph. Nikolaus ist ganz und gar nicht klein geraten.«

Überall um ihn herum war verhaltenes Lachen zu hören, denn Cousin Rudolph hatte unglücklicherweise nicht die Statur der Albarans geerbt, sondern die seines eher untersetzten Vaters Karl.

»ICH SAGTE HEIRATEN, TANTE SOPHIE!«, rief Rudolph.

Tante Sophie grinste breit, wobei ihre Augen fast in ihren vielen Runzeln verschwanden. »Natürlich soll er heiraten, Rudolph, niemand will, dass er eine alte Jungfer wie ich wird.«

Die ganze Tafel brach erneut in Gelächter aus. Nicholas war sich nie ganz sicher, ob Tante Sophie wirklich schwerhörig war oder sie ihr Gehör nur als Ausrede nahm, um alles und jeden aufs Korn zu nehmen.

»Was für eine Wette, Theresias?«, rief Großvater vom Kopf der Tafel her, ehe die Gespräche wieder einsetzten.

»Nun, es würde unserem Nicholas nicht schaden, ein wenig Weltgewandtheit zu erwerben, ehe er sich endlich eine Frau nimmt.« In Onkel Theresias’ Augen saß der Schalk, als er sich Nicholas zuwandte. »Wie wäre es mit Folgendem: Du verkleidest dich als einfacher Mann und gehst auf den Markt, kaufst ein paar Dinge und kommst mit den Leuten ins Gespräch. Sagen wir, für den Rest des Monats.«

»Nicholas könnte sich niemals unters einfache Volk mischen!«, rief Seraphina aufgebracht. »Jeder würde ihm sofort ansehen, dass er der Prinz ist!« Sie funkelte Nicholas böse an. »Du weißt ja nicht einmal, wie man mit jemandem spricht, der nicht von adeliger Abstammung ist!«

»Und du weißt das?«, fragte Nicholas.

»Natürlich weiß ich das! Alle meine Freunde sind normal.«

»He! Ich bin auch normal!«

»Bist du nicht!«

»Deshalb die Wette, Seraphina«, ging Onkel Theresias dazwischen. »Du und ich, wir wetten, dass er sofort erkannt wird und alle gleich wissen werden, dass er Prinz Nikolaus ist.«

Seraphina sah zwischen Onkel Theresias und Nicholas hin und her. »Was, wenn er verliert?«

»Wenn er verliert, muss er sich auf dem Frühlingsball eine Frau suchen.«

Nicholas rutschte das Herz in die Hose. Eine Frau. Die Heiligen mochten ihn bewahren.

Seraphina sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an und schüttelte vehement den Kopf. »Nein. Nein, das ist gemein.«

»Einverstanden«, sagte Nicholas, als er Onkel Theresias’ spekulativen Blick auffing.

»Niko, nicht!« Seraphina klammerte sich an seinen Arm.

Nicholas hob eine Augenbraue. »Wirklich Seraphina, dein Vertrauen in mich ist herzerwärmend.«

Sie runzelte verwirrt die Stirn, die Ironie wie immer an ihr verschwendet.

»Und wenn ich gewinne?«, fragte Nicholas an Onkel Theresias gewandt.

»Dann hast du eine wichtige Lektion gelernt«, sagte Onkel Theresias mit einem Lachen.

Nicholas warf ihm einen finsteren Blick zu.

»Wie wäre es damit: Ich halte für den Rest des Jahres deinen Vater beschäftigt, damit er dich nicht mehr auf eine Heirat drängt.«

»Theresias!«, donnerte Vater. »Ermutige den Jungen nicht auch noch!«

»Heilige Ruïr, Niki.« Onkel Theresias verdrehte die Augen. »Nicht jeder von uns ist so tugendhaft wie du und mit zwanzig schon verheiratet. Erlaube dem Jungen ein bisschen Freiraum.«

»Er ist fünfundzwanzig!«

»Na und? Wie ich schon sagte, nicht jeder ist so tugendhaft oder so glücklich wie du.«

»Ich –«

»Ich finde die Sache ausgesprochen interessant«, sagte Großvater über Vater hinweg, der wütend die Zähne zusammenbiss. »Und ein wenig mehr Erfahrung in der Stadt wird Nicholas nicht schaden, ehe er zu einem Bücherwurm wird wie du, Niki. Eine gute Sache.«

Vater erwiderte nichts, sondern saß steif auf seinem Platz, den Blick auf seinen leeren Teller gerichtet. Nicholas hätte fast ein wenig Mitleid mit ihm gehabt, wenn Vater ihn nicht ständig darauf drängen würde, eine Frau zu finden.

»Du darfst nicht mit Adeligen sprechen!«, wandte Seraphina hitzig ein. »Und auch nicht mit reichen Leuten!«

»Wilhelm kann uns sagen, wie du dich geschlagen hast«, schlug Onkel Theresias vor.

»Wilhelm!«, rief Nicholas entrüstet. Wilhelm war Nicholas’ Kammerdiener und Mann für alles mit keinerlei Sinn für Humor. Nicholas sah seine Chancen, die Wette zu gewinnen, bereits schwinden.

»Wir brauchen einen unabhängigen Beobachter«, erklärte Onkel Theresias bestimmt.

»Aber Wilhelm?«, protestierte Nicholas.

»Er ist derjenige, der dich überallhin begleitet, und absolut integer oder etwa nicht?«

Nicholas zog den Kopf ein, als sowohl Vater als auch Großvater ihn scharf ansahen. »Natürlich ist er integer«, sagte er kleinlaut. Er mochte vielleicht über Wilhelms rigide Art jammern, doch Nicholas musste eingestehen, dass der Mann nicht nur ein Auge für Mode hatte, sondern auch stets bestens informiert war. Und wer sollte sonst Nicholas’ Krawatten binden?

»Gut zu hören, Niko!«, rief Großvater. »Ich hatte schon Sorge.«

Onkel Theresias musterte ihn über den Tisch. »Also haben wir eine Wette?«

»Also gut«, gab Nicholas sich geschlagen. »Abgemacht.«

»Hört, hört!«, rief Onkel Theresias und hob sein Glas. Vaters übrige Brüder und auch einige der Tanten, die in der Nähe saßen, taten es ihm gleich, während am anderen Ende der Tafel die Verwandten neugierig die Hälse reckten.

»Wirklich, Nicholas, das ist viel zu gefährlich«, wandte Vater ein.

»Ach, lass den Jungen doch«, ging Großvater dazwischen. »Du tust gerade so, als würde meine Stadt vor Mördern und Trunkenbolden wimmeln. Er wird Wilhelm dabei haben.«

Vater biss die Zähne zusammen und erwiderte nichts.

Nicholas sah, wie Mutter die Finger um Vaters Handgelenk schlang und die beiden einen langen Blick austauschten. Vater seufzte schließlich und nickte, ein gezwungenes Lächeln auf den Lippen.

Nicholas verspürte einen kurzen Gewissensbiss, dass er sich gegen Vaters Wünsche gestellt hatte. Doch er war schon lange kein Kind mehr und er würde allen zeigen, dass er mehr war als nur der Enkel des Königs.

Kapitel 3

Ruïrs Tempel war, wie es sich für die Heilige des Frühlings und der Fruchtbarkeit gehörte, eine grüne Oase inmitten der Stadt und ein Labyrinth aus Kreuzgängen, lichtdurchfluteten Hallen und grünen Gärten. Leo liebte den Tempel, der das Herz von Arden, der Hauptstadt von Ostris, und einer der vier großen Heiligentempel in Ostris war. Als Junge hatte Leo oft gemeinsam mit seiner Mutter die Gärten der Ruïr besucht, die sich über das gesamte Tempelgelände erstreckten und in denen das ganze Jahr über Vögel zwitscherten und Bienen summten. Einige der Tempelbauten ähnelten mehr Gewächshäusern als Tempeln mit exotischen Pflanzen, die bis zu den Kuppeldächern aus Glas hinauf wuchsen, und Düften so betörend, dass Leo schwindelig geworden war.

Doch das war lange her. Leo konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wann er das letzte Mal im Tempel der Ruïr gewesen war. Vor dem Tod seiner Mutter. Bevor sich alles geändert hatte. Nun hatte er kaum Zeit für einen kurzen Besuch in der Halle der Heiligen, die am Rande des Tempelgeländes lag, den ganzen Weg bis in den Tempel zu gehen, war undenkbar.

Stille empfing ihn, als er durch den Südeingang in die Halle der Heiligen schlüpfte. Er verlor keine Zeit und eilte in die Halle der Ruïr, wo ihn grünes Licht umspielte, das durch die Bleiglasfenster über dem Altar fiel. Leo legte eine Feder, die er unterwegs gefunden hatte, auf dem aus schwerem Eichenholz gefertigten Altar nieder und sprach ein stilles Gebet. Es war nur eine kleine Feder, doch sie war schwarz mit wunderschönen weißen Punkten am Rand und er hoffte, sie würde genügen, um seine Dankbarkeit auszudrücken.

Die Halle der Heiligen war im Vergleich zum Haupttempel nur ein kleines Gebäude mit vier runden Flügeln, die nach den Himmelsrichtungen ausgerichtet und jeweils einem der vier Heiligen von Ostris geweiht waren. Sie lag ganz in der Nähe des Marktplatzes, sodass Besucher es nicht weit hatten, um ihrem Heiligen zu huldigen, und es erlaubte auch Leo gelegentlich die Halle zu besuchen, um eine Opfergabe zu bringen, Kerzen zu entzünden oder einfach nur ein stilles Gebet zu sprechen.

Wie üblich hielten sich auch an diesem Morgen nur wenige Menschen in der Halle der Heiligen auf. Leo erspähte einige Besucher, die vor dem Altar Sorins, der Heiligen des Sommers, niederknieten und Kerzen anzündeten, als er die Halle der Ruïr verließ und in die in blaues Licht getauchte Halle des Vandros schlüpfte. Der schwarze Basaltaltar des Vandros lag wie auch Ruïrs verlassen – Ruïrs Altar, weil sie größere Altäre im Tempel hatte und Vandros’, weil der Heilige des Winters und der Toten im Allgemeinen nicht sonderlich beliebt war – und in einer Stadt, die der Heiligen des Überflusses und der Fruchtbarkeit gewidmet war, noch viel weniger.

Leo hingegen mochte Vandros gerade deshalb. Er war der einzige Heilige, der verstand, was Mangel bedeutete, der sich von den Vieren, die einst Ostris aus dem Meer erhoben hatten, den kargen Norden ausgesucht hatte. Darüber hinaus war Vandros der Schutzheilige der Familie seines Vaters und wachte täglich über Haus Silberschild. Zumindest hoffte Leo, dass Vandros es nach all der Zeit immer noch tat.

Leos Herz tat einen Sprung, als er den Priester des Eisheiligen selbst bemerkte, der vor dem Basaltaltar stand und zu den blauen Bleiglasfenstern über dem Altar aufschaute. Er war so still und unbeweglich, dass Leo ihn zuerst übersehen hatte. Leos Herz begann schneller zu schlagen. Für gewöhnlich waren es die Tempeldiener, die eilfertig die kleinen blauen Kerzen für die Tempelbesucher auffüllten oder herabgebrannte Kerzen entfernten und für Ordnung im Heiligtum sorgten. War es nur ein Zufall, dass der Priester ausgerechnet in diesem Augenblick hier in der Halle des Vandros erschienen war? Leo konnte den Mann nur anstarren, während ihm die Hände feucht wurden und die Ohren heiß. Konnte er so dreist sein, und den Priester einfach ansprechen?

Der Priester verharrte reglos, den Kopf erhoben, als wäre er tief ins Gebet versunken. Leo hatte ihn noch nie angesprochen, doch er konnte sich diese Chance nicht entgehen lassen. Es war fast, als hätte Vandros ihm genau diese Gelegenheit geschenkt. Leo zögerte noch einen Augenblick länger und betete inständig um die richtigen Worte, ehe er sich ein Herz fasste und leisen Schrittes durch den Mittelgang bis zum Altar ging.

Der Priester drehte sich um, kaum dass Leo drei Schritte getan hatte, und Leo verlor beinahe den Mut, als die eisblauen Augen des Priesters den seinen begegneten. Doch nun, da der Priester ihn gesehen hatte, konnte Leo unmöglich wieder umkehren.

Leo blieb in gebührendem Abstand stehen und verbeugte sich mit pochendem Herzen. »Verzeiht die Störung, Ehrwürdiger Vater.«

Leo war dem Priester noch nie so nahe gewesen und musterte ihn verstohlen. Selbst aus der Nähe war es schwer, das Alter des Mannes zu schätzen. Er war deutlich älter als Leo, so viel war sicher, wenngleich Leo darüber hinaus nicht viel mehr sagen konnte. Der Priester mochte dreißig sein oder auch sechzig. Diejenigen, die die Gaben der Heiligen besaßen, alterten nicht wie normale Menschen.

»Was kann ich für dich tun, mein Kind?«, sagte der Priester mit unbewegter Miene und hartem Blick. Selbst seine Stimme war hart mit dem unverwechselbaren kehligen Einschlag der Nordländer. Man erzählte sich, das Nordländer hart wie das Eis und kalt wie der Schnee waren, der ihre Provinz bedeckte. Leo konnte sich nicht mehr an viel von seinem Vater erinnern, doch er war sich sicher, dass sein Vater alles andere als kalt und unnahbar gewesen war, obwohl er im Norden geboren worden war. Der Priester hingegen war der Inbegriff eines Nordländers und eines Priesters des Eises und Winters. Er sah nicht einmal aus wie ein Priester mit seiner hochgewachsenen Gestalt, den eisblauen Gewändern, kniehohen Stiefeln und dem zeremoniellen Messer am Gürtel, sondern wirkte eher wie ein Krieger aus den alten Sagen, der nur darauf wartete, Wölfe zu jagen oder gegen die Ungeheuer der Tiefe zu kämpfen.

Leo starrte auf seine Füße. »Ehrwürdiger Vater, das Vandrosfest steht bevor und ich wollte fragen, ob der Tempel eine Vandroskerze entbehren könnte. Ich … ich habe nicht viel, was ich geben könnte.« Seine Ohren glühten und er wollte im Boden versinken. Was um alles in der Welt hatte er sich dabei gedacht? Warum sollte der Tempel Kerzen verschenken? Vandroskerzen noch dazu! Kerzen waren teuer, wie Leos Stiefvater nicht müde wurde zu betonen.

»Sieh mich an, mein Kind«, sagte der Priester mit überraschend sanfter Stimme und Leo gehorchte ihm hastig.

Der Ausdruck auf dem Gesicht des Priesters war weder wütend noch abschätzig. »Du bist ein Diener?«

Leo zögerte. Die Antwort darauf war kompliziert, doch schließlich sagte er: »Ja, Ehrwürdiger Vater.«

Der Priester musterte Leo kritisch. »Und weshalb erbittest du eine Kerze?«

»Vandros ist der Schutzheilige meiner Familie. Und ich …« Leos Stimme verlor sich. Er konnte dem Priester schlecht sagen, dass er hoffte, dass eine Kerze seine Bitte um Hilfe verstärken würde. »Ich wollte ihm zeigen, dass es auch in Ruïrs Stadt Menschen gibt, die ihm treu sind.«

Der Blick des Priesters war durchdringend, als er Leo musterte. »Du siehst nicht aus wie ein Nordländer.«

»Meine Mutter ist hier in Arden geboren. Mein Vater war Nordländer.«

»Ah.« Der Priester nickte verstehend, ein mitfühlender Ausdruck in seinen hellen Augen. »Es kann schwer sein, allein in der Fremde zu leben. Der Winter hier in Zentralostris ist nicht derselbe wie im Norden.« Für einen Moment ging der Blick des Priesters ins Leere, ein einsames Lächeln auf den Lippen, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder auf Leo richtete. Er deutete mit einer Hand zu der Bank rechts vom Altar, die den Tempeldienern vorbehalten war, und wartete, bis Leo sich in Bewegung setzte, bevor er Leo gemächlichen Schrittes folgte. Leo blieb vor der Bank stehen, unsicher, was genau der Priester von ihm erwartete, doch der machte nur eine weitere einladende Handbewegung in Richtung der Bank. Als der Mann sich schließlich selbst setzte und die Beine überkreuzte, nahm Leo ebenfalls in einigem Abstand Platz.

Blaues Licht fiel durch die großen Bleiglasfenster auf sie hinab. Der Heilige Vandros, dessen imposante Gestalt auf dem mittleren Fenster in blau und weiß eingefangen war, hatte so eisblaue Augen wie der Priester und dasselbe weißblonde Haar, und sah mit hartem Blick auf Leo hinab. Dennoch war es Vandros, der Herr des Winters und des Todes, der Leo ein Gefühl von Hoffnung und Geborgenheit vermittelte, sodass Leo ihm ein mattes Lächeln schenkte.

»Wie heißt du, mein Junge?«, fragte der Priester. Er hatte einen Arm hinter Leo über die Rückenlehne ausgestreckt, sodass er Leo zugewandt war.

»Leonhard«, erwiderte Leo.

Der Priester hob erwartungsvoll eine Augenbraue.

Leo schluckte und spielte für einen Augenblick mit dem Gedanken zu lügen, bis ihm einfiel, dass die Priester über Magie verfügten. Darüber hinaus konnte er unmöglich einen Priester des Heiligen Vandros anlügen. Was würde der Heilige von Leo denken? Leos Blick huschte zu den Bleiglasfenstern und Vandros’ Augen schienen ihn regelrecht aufzuspießen. Nein. Lügen war absolut undenkbar.

»Ich würde meinen Familiennamen lieber für mich behalten, Ehrwürdiger Vater«, gab er schließlich zu.

Beide Augenbrauen des Priesters kletterten in die Höhe, doch zu Leos Erleichterung neigte er den Kopf. »Wie du wünschst, mein Kind. Erzähl mir, warum dein Herr keine Kerze für dich bereitstellt.«

Leo spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich und ihn schwindeln ließ. Natürlich würde der Priester mehr von ihm wissen wollen.

»Er … er ist sehr sparsam«, meinte er schließlich schwach.

Die Brauen des Priesters zogen sich zusammen und nun glühten Leos Ohren und Wangen um die Wette.

»Und warum kaufst du sie dann nicht vom Tempel wie jeder andere?«

»Ich … ich habe kein eigenes Geld«, flüsterte Leo und verfluchte sich, dass er den Priester überhaupt angesprochen hatte. Was musste er von Leo denken?

»Sicherlich bezahlt dein Herr dich!«, rief der Priester erstaunt.

Leo senkte den Blick und klammerte sich an die Bank. Wie lange war er schon hier?

Eine Hand schloss sich um sein Handgelenk, der Griff kühl und fest. »Brauchst du Hilfe, mein Kind?«, fragte der Priester sanft.

Leo zuckte bei der Berührung zusammen und schüttelte hastig den Kopf.

Der Priester riss seine Hand zurück, als hätte er sich verbrannt, und Leo zog den Kopf noch weiter ein. Er war so dumm. Was tat er hier überhaupt?

»Solltest du deine Meinung ändern, weißt du, wo du mich finden kannst«, sagte der Priester. Er klang nicht wütend, doch Leo wagte es nicht ihn anzusehen, sondern nickte nur stumm. Dennoch konnte Leo den Blick des Mannes auf sich spüren. Was dachte er nun von Leo?

»Nun denn,« sagte der Priester nach einem Augenblick des Schweigens. »Dann sollst du deine Kerze bekommen. Nur eine?«

Leo hob überrascht den Kopf und begegnete dem Blick des Priesters, in dem er nichts als Freundlichkeit und Sorge fand. Er nickte wieder und stieß mit heiserer Stimme hervor: »Eine reicht vollkommen.«

»Warte hier«, befahl der Priester, erhob sich von der Bank und ging zielstrebig davon.

Leo atmete aus, die Hände noch immer um die Bank geklammert, als ihm plötzlich ein Gedanke kam: Was, wenn der Priester wusste, wer er war? Was, wenn er genau in diesem Moment jemanden nach Leos Stiefvater fragte? Leo hatte sich gerade davon überzeugt, dass er besser schleunigst das Weite suchen sollte, als der Priester plötzlich wieder vor ihm stand und mit gerunzelter Stirn auf ihn herabblickte.

»Geht es dir nicht gut, Kind?«

Leo konnte nur hilflos zu ihm aufstarren. Seine Wangen brannten, als er die Kerze in der Hand des anderen Mannes bemerkte, und er schalt sich einen Narren.

Traurigkeit umwölkte die eisblauen Augen des Priesters. »Dachtest du, ich würde die Tempelgarde rufen?«

»Nein! Nein, ich … nein.« Leo kniff die Augen zusammen und senkte beschämt den Kopf.

»Nicht doch«, sagte der Priester sanft, und als Leo die Augen wieder öffnete, hockte der andere Mann vor Leo, seine Augen voller Güte und Wärme. »Hier im Tempel sind wir alle Kinder des Winters. Es macht keinen Unterschied, ob du arm oder reich bist.«

»Und wenn ich ein Dieb wäre?«

Der Priester lachte leise. »Dann hättest du mich wohl kaum nach einer Kerze gefragt, nicht wahr?« Er lächelte warm. »Und selbst wenn du ein Dieb wärst, würde ich versuchen herauszufinden, warum du es für nötig erachtest, zu stehlen. Die Dinge, so habe ich festgestellt, sind oft nicht so, wie sie auf den ersten Blick erscheinen.« Er nahm Leos Hand und schloss sie um die Kerze, die er mitgebracht hatte. Seine Finger waren eiskalt und verschwanden sofort wieder.

Leo starrte benommen auf die dicke Kerze in seiner Hand. Er hatte erwartet, dass der Priester ihm einfach eine von den kleinen Kerzen geben würde, die für die Tempelbesucher auslagen und von denen Leo selbst schon etliche entzündet hatte. Für einen Moment war er versucht gewesen, einfach eine mitzunehmen, doch was brachte ihm eine Kerze, die er gestohlen hatte? Der Heilige würde sicherlich nicht mit Wohlwollen auf Leos Bitte herabblicken, wenn er eine Kerze aus dem Tempel stahl.

Doch die Kerze, die der Priester ihm gegeben hatte, war so dick wie die Altarkerzen, so dick, dass Leo sie nicht mit einer Hand umfassen konnte, und sie schimmerte und glitzerte bläulich-weiß als wäre sie selbst aus Eis gefertigt. Verschlungene Muster waren in das Wachs geritzt, Eiskristalle und Spiralen und Ranken und es sah fast so aus, als würden sie ein Gesicht formen.

Leo blinzelte und konnte den Priester nur ungläubig anstarren.

»Sie sollte den ganzen Winter über brennen, wenn du sie zum Vandrosfest anzündest.«

»Den ganzen Winter?«

Die Mundwinkel des Priesters zuckten. »Es ist eine Vandroskerze.«

Leos Gesicht und Ohren wurden schon wieder heiß. »Natürlich.« Er biss sich auf die Lippe und versuchte, die Kerze zurückzugeben. »Das ist zu viel, Ehrwürdiger Vater.«

»Nein, ich glaube nicht.« Der Priester erhob sich, ehe Leo einen weiteren Protest äußern konnte. »Komm, mein Kind, ich will dir den Segen unseres Heiligen zusprechen.«

Leo erhob sich und folgte dem Priester auf plötzlich schwachen Beinen zum Altar.

Der Priester legte Leo eine Hand auf den Kopf. »Geh mit dem Segen Vandros’. Möge er dir einen festen Schritt auf jedem Wege und ein Licht in deiner Dunkelheit schenken.«

Die Worte gingen Leo durch Mark und Bein und er fühlte ein Stechen in den Augen, während ihn ein seltsames Prickeln überkam.

Der Priester trat einen Schritt zurück und als Leo den Kopf hob, musterte der andere Mann ihn mit einem Stirnrunzeln. »Wie alt bist du, Kind?«

»Fast zwanzig, Ehrwürdiger Vater.«

»Wurdest du dem Tempel präsentiert?«

»Ja, Ehrwürdiger Vater.«

»Wie alt warst du?«

»Vierzehn, Ehrwürdiger Vater.«

»Und das Ergebnis?«

»Keine Magie, Ehrwürdiger Vater«, flüsterte Leo. Jedes Kind in Ostris wurde mit vierzehn dem Tempel präsentiert und auf Magie getestet. Diejenigen, die genügend Magie besaßen, wurden im Tempel in den Künsten der Heiligen ausgebildet. Leo selbst konnte sich nicht mehr an seine eigene Tempelprüfung erinnern. Mutter war kurz davor gestorben und alles danach lag im Nebel.

»Warst du bei mir?«, fragte der Priester weiter.

Leo zog die Stirn kraus. »Ich … ich weiß nicht, Ehrwürdiger Vater.« Als Junge hatte er oft davon geträumt, dass die Priester einen Fehler gemacht hatten, doch er war kein Kind mehr und Träume waren nicht für ihn.

»Hm …«, machte der Priester und tippte sich mit einem Finger gegen die Lippen. »Wurdest du nochmals getestet?«

Leo fühlte sich schwach. Warum um alles in der Welt stellte ihm der Priester so viele Fragen? »Ich … ich weiß es nicht mehr, Ehrwürdiger Vater.«

Der Priester nahm Leos Kinn in die Hand und beugte dessen Kopf nach hinten, sodass er Leo in die Augen sehen konnte. Seine Hände waren so kalt, dass sie auf Leos Haut brannten, und das Prickeln überkam ihn wieder, sodass er eine Gänsehaut bekam.

»Komm in vier Wochen wieder«, sagte der Priester, ließ Leos Kinn los, trat einen Schritt zurück und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Vor der Vandrosnacht.«

»Ich … ich will es versuchen, Ehrwürdiger Vater.«

Die Brauen des Priesters zogen sich zusammen. »Sicherlich wird dich dein Herr in den Tempel gehen lassen?«

Leo umklammerte die Kerze und presste sie gegen seine Brust. »Mein Va–, ich meine, mein Herr weiß nicht, dass ich hier bin. Er verehrt die Heilige Ruïr.«

»Ich … verstehe«, sagte der Priester langsam, obwohl er nicht so klang, als verstünde er. »Komm, wenn es deine Zeit zulässt. Sollte nur ein Tempeldiener hier sein, sag ihm, dass du auf mein Geheiß hier bist.«

»Ja, Ehrwürdiger Vater.«