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Prolog

Die Frau stand im Schatten der uralten Eiche und hielt ein kleines Bündel in die Höhe. Ihr Haar war bereits vollständig ergraut, ihre Augen und ihr Mund von zahlreichen Fältchen gerahmt, doch ihre braunen Augen hatten nichts von ihrer Schärfe verloren und ihre Schultern waren auch nach all den Jahren noch ungebeugt.

Ein Gesicht bildete sich langsam in dem zerfurchten Stamm der Eiche und ein Rascheln ging durch die Blätter des Baumes, von denen manche frisch und grün waren, während andere in den Farben des Herbstes erstrahlten. Dunkle Augen blickten unter borkigen Wulsten hervor und wurden schmal, als sie das kleine Bündel bemerkten, in dem nicht mehr als das schlafende Gesicht eines Neugeborenen zu sehen war.

„Ein Junge?“ Die Stimme war ein tiefes, dunkles Rumpeln wie fernes Donnergrollen und sie schien aus den Tiefen der Erde selbst zu kommen.

Schlanke Äste bogen sich knarrend zu dem Bündel herab, umschlossen es wie mit spindeldürren Fingern und hoben es der Frau behutsam aus den Armen.

Die Frau reckte trotzig das Kinn und verschränkte die nun freien Arme vor der Brust.

„Wer sagt, dass der Hüter eine Frau sein muss?“, fragte sie scharf.

Die Blätter raschelten wieder und die Eiche gab ein tiefes Rumpeln von sich, das ein Lachen hätte sein können.

„Niemand.“

Ein langer, dürrer Ast strich sanft über die weiche Wange des Kindes, das im nächsten Moment die Augen aufschlug. Sie waren von einem ungewöhnlichen bernsteinfarbenen Ton und schimmerten in dem dämmrigen Zwielicht, das unter dem dichten Blätterdach herrschte, wie flüssiges Gold.

Für einen Augenblick herrschte Totenstille auf der Lichtung, dann schienen alle Bäume des Waldes auf einmal zu wispern und flüstern und die Blätter der Eiche raschelten aufgeregt.

Der Baum richtete seine Aufmerksamkeit auf die grauhaarige Frau vor ihm.

„Du törichte Frau“, rief die Eiche und der Boden schien unter ihrem Zorn zu erbeben. „Hast du auch nur die geringste Ahnung, wer der Vater deines Kindes ist?“

Die Frau hielt dem Blick der Eiche stand und ihre braunen Augen blitzten herausfordernd.

„Ich mag alt sein“, erwiderte sie mit stählerner Stimme, „aber ich bin nicht dumm. Natürlich wusste ich, wer er war.“

Die Augen des Baumes verengten sich. „War? Wo ist dieser Nichtsnutz jetzt?“

Jeglicher Kampfgeist schien die Frau von einem Moment zum nächsten zu verlassen und ihr Gesicht nahm einen kummervollen Ausdruck an. „Er ist den Greifen in die Hände gefallen“, flüsterte sie, den Blick auf das Kind gerichtet, das nichts von dem Kummer seiner Mutter zu ahnen schien.

Ein Rauschen ging durch den Wald, wie ein tiefes Seufzen, und ein mitfühlender Ausdruck trat auf das zerfurchte Gesicht im Stamm der Eiche, als es das winzige Geschöpf betrachtete, das den Baum still aus großen, goldenen Augen musterte.

„Du wirst es nicht leicht haben, kleiner Hexer“, raunte die Eiche.

Das Kind gluckste, als es ein knorriger Finger am Bauch kitzelte. Ein kleines Ärmchen streckte sich aus dem Bündel hervor und griff nach dem Ast, ohne ihn jedoch zu fassen zu bekommen.

„Er hat ein gutes Herz“, sagte die Eiche, als die Äste das Kind behutsam in die wartenden Arme der Frau legten.

„Das hat er“, erwiderte die Frau.

„Hoffen wir, dass es genug sein wird“, sagte der Baum.

Die Frau runzelte die Stirn. „Du kannst seine Zukunft sehen?“

„Nein“, rumpelte der Baum, „aber ich weiß, wie die Menschen sind.“

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