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Die Dornenhexe

Ein Märchen von Janine Hofeditz

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1

Conrad zügelte seinen Rappen, als er die Hügelkuppe erreichte und in der Ferne das Rosenschloss ausmachen konnte.

Daheim.

Er konnte es noch immer nicht fassen, dass der Krieg tatsächlich vorbei sein sollte, dass er wieder zurück war, dass er in kaum einer Stunde wieder den vertrauten Weg hinauf zum Schloss reiten würde. So vieles war geschehen. Würden sie ihn überhaupt wiedererkennen? Hatten sie ihn vermisst?

Der Wind frischte auf, strich durch das Gras, das den Hügel bedeckte, und rauschte durch die Blätter der vereinzelten Bäume, die die Grenzen der Felder markierten. Fünf Jahre war es her, seit er hier gewesen war, fünf Jahre seit er das letzte Mal einen Blick auf die Türme des Schlosses geworfen hatte.

Es sah noch genauso aus wie damals. Die Nachmittagssonne verlieh den weißgetünchten Mauern einen goldenen Schimmer und ließ das Schloss wie ein Juwel erstrahlen. Die Rosen, die sich an der äußeren Burgmauer emporrankten, standen in voller Blüte. Die Ranken waren deutlich gewachsen, seit er in den Krieg gezogen war, und aus der Ferne sah es so aus, als würden sie sich bis zu den Zinnen emporranken.

Conrad trieb sein Pferd mit sanftem Schenkeldruck voran. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Straße, die hinauf zum Schloss führte, seltsam verlassen dalag. Nicht ein einzelner Karren war unterwegs, keine Händler, Bauern, Krämer. Wo waren all die Menschen, die für gewöhnlich die Straße bevölkerten? Conrad runzelte die Stirn und blickte wieder hinauf zum Schloss. War es das, was der Krieg angerichtet hatte? Dass die Menschen sich nicht mehr auf die Straße wagten? Krähen hockten in den Feldern und krächzten von den Bäumen herab, als würden sie Conrad verspotten. Er war plötzlich froh, dass er keinen Boten vorausgeschickt hatte. Was auch immer hier geschehen war, die Stille verhieß nichts Gutes. Er trieb seine Stute zum Galopp, seine Sinne gespannt und wachsam. Je näher er der Burg kam, desto mehr verstärkte sich das warnende Prickeln in seinem Nacken, das ihm schon mehr als einmal das Leben gerettet hatte.

Und dann war er endlich heran und starrte mit offenem Mund auf die undurchdringliche Dornenhecke, die ihm den Weg ins Schloss versperrte. Einige Augenblicke lang saß er einfach nur da und traute seinen Augen kaum, während seine Stute die Gelegenheit nutzte, um sich an dem Gras der Böschung gütlich zu tun.

Was um alles in der Welt war hier geschehen? Die Rosen, die die Mauer umgaben und dem Schloss seinen Namen verliehen, waren zu einer dichten Hecke gewachsen, die ihm den Weg versperrte, und wuchsen tatsächlich bis zu den Zinnen empor. Nichts war mehr übrig von den wunderschönen Rosen als eine drohende Mauer aus Dornen. Als hätte es die Burg dahinter niemals gegeben.

Conrad ließ sich langsam aus dem Sattel gleiten und zog sein Schwert. Er hatte den Krieg überlebt, er würde sich ganz sicher nicht von einer Dornenhecke aufhalten lassen.

~*~

Der Wirt hob lediglich eine buschige Augenbraue, als Conrad am Abend von oben bis unten zerkratzt im nächsten Wirtshaus einkehrte, und stellte wortlos einen Humpen Bier vor ihm auf dem Tresen ab.

»Du siehst aus, als hättest du dein Glück mit der Rosenhecke versucht«, sagte der Wirt.

Aus dem Augenwinkel sah Conrad, wie die Leute an den umliegenden Tischen die Köpfe hoben und in seine Richtung schauten. Einige hoben sogar ihre Krüge, um Conrad mit einem wissenden Grinsen zuzuprosten.

»So sieht es aus«, sagte Conrad und nahm einen Schluck von seinem Bier, um seine Verwirrung zu überspielen. Es war ein wenig seltsam, dass ihn noch niemand erkannt hatte. Andererseits war er fünf Jahre fort gewesen und nach Wochen auf dem Pferderücken und dem Kampf mit der Dornenhecke glich er wahrscheinlich eher einem Dieb als einem Prinzen.

»Was ist geschehen?«, fragte er nach einem weiteren Schluck. »Wieso ist das königliche Schloss hinter einer Dornenhecke verborgen?«

Es sah so aus, als würden zwei haarige Raupen aufeinander zukriechen, als der Wirt die buschigen Augenbrauen zusammenzog und Conrad mit einem langen Blick bedachte. »Du bist wohl nicht aus der Gegend.«

Conrad gab nur ein unbestimmtes Grunzen von sich, das der Wirt deuten konnte, wie er wollte.

»Der König hat es sich offenbar mit der Hexe, die im Nebelwald lebt, verscherzt«, erklärte der Wirt und beugte sich mit verschwörerischer Miene vor. »Er hat einen riesigen Ball gegeben, zu dem das ganze Königreich eingeladen war, doch wie man sich erzählt, hat er wohl die Hexe vergessen.« Der Mann richtete sich wieder auf und begann einen Bierkrug zu polieren. »Also hat sie ihn und seine gesamte Familie für alle Zeiten verflucht.«

Conrad klammerte sich an sein Bier. »Sie hat die königliche Familie verflucht?«

Die haarigen Raupen krochen wieder über die Stirn des Wirtes. »Ja, das sagte ich doch. Den König, seine Familie und die gesamte Dienerschaft. Wie man sich erzählt, sind sie für alle Zeiten in ewigem Schlaf gefangen, um für die Arroganz des Königs zu bezahlen.«

»Und niemand hat versucht, den Fluch zu brechen?«

Der Wirt lachte. »Junge, ich kann gar nicht mehr zählen, wie viele Glücksritter versucht haben, sich einen Weg durch die Hecke zu bahnen. Aber niemandem ist es gelungen. Ich bin nicht sicher, ob es überhaupt einen Weg gibt, um den Fluch zu brechen.«

Seine kleine Schwester Iffi. Richard und Wieland. Seine Mutter. Warum hatte er nichts davon gewusst?

»Wie lange steht die Hecke schon?«

»Ein paar Jahre bestimmt. Vielleicht zwei, vielleicht auch drei.« Der Wirt zuckte die Achseln, als kümmerte es ihn nicht sonderlich.

Drei Jahre!

»Wo finde ich diese Hexe?«, fragte Conrad weiter.

Der Wirt lachte wieder. »Gib dir keine Mühe. Die Hexe lässt sich nicht erweichen. Das haben schon andere vor dir versucht.«

Die anderen waren jedoch nicht Conrad gewesen. »Dann werde ich ebenso mein Glück versuchen«, verkündete er, während er sich von seinem Stuhl erhob. »Wo finde ich sie?«

Der Wirt musterte ihn aus schmalen Augen. »Hab ich dich nicht schon mal gesehen? Du kommst mir irgendwie bekannt vor …«

»Nicht, dass ich wüsste«, sagte Conrad mit einem unschuldigen Grinsen und fischte hastig ein paar Münzen aus seinem Geldbeutel. »Im Nebelwald sagtest du, nicht wahr? Ich werde die Hexe schon finden. Wünsch mir Glück!« Er warf ausreichend Münzen auf den Tresen und verschwand, ehe der Wirt doch noch darauf kam, woher er Conrads Gesicht kannte.

~*~

Conrad atmete erleichtert auf, als er endlich das Haus der Hexe fand. Er hatte das Gefühl, schon seit Stunden durch den Wald zu irren, obwohl er schon mehrfach nach dem Weg gefragt hatte. Conrad schob es auf den Nebel, der an manchen Stellen so dicht war, dass man kaum die Hand vor Augen sah. Es erinnerte ihn unangenehm an den Tag im Moor, als –

Nein! Er hatte sich geschworen, niemals wieder daran zu denken, und dies war ganz sicher nicht der Zeitpunkt, um über die Geister der Vergangenheit nachzudenken.

Seine Schritte stockten, als er ein Knarren aus der Richtung des Hauses hörte und es für einen Augenblick so aussah, als hätte sich das Haus vorgebeugt, um ihn mit strengem Blick zu mustern.

Aber das war natürlich völliger Unsinn. Anscheinend ging bei all dem Nebel seine Phantasie mit ihm durch, denn ein Haus war nicht lebendig. Nicht einmal ein Hexenhaus.

Conrad ging langsam weiter, ohne das Haus aus den Augen zu lassen. Es knarrte und ächzte, wie es alte Häuser bisweilen taten, und Conrad wurde das Gefühl nicht los, dass es ihn noch immer beobachtete.

Conrad strich sich verlegen über den Mantel, der wahrhaftig schon bessere Tage gesehen hatte, und kam sich im selben Moment albern vor, dass er sich so sehr von einem Haus aus der Ruhe bringen ließ. Es war nur ein Haus.

Er straffte die Schultern, setzte sein charmantestes Lächeln auf und klopfte einmal an die verwitterte Tür, bevor er die Hand hastig wieder zurückzog. Es schadete schließlich nicht, auf der Hut zu sein.

Er wollte gerade ein zweites Mal anklopfen, als die Tür aufgerissen wurde und Conrad sich einer jungen Frau mit einer kupferroten Mähne gegenübersah, die ihn ungehalten anfunkelte.

»Wer bist du und was willst du?«, schnappte sie, während sie ihn unverhohlen von Kopf bis Fuß musterte und Conrad unangenehm daran erinnerte, dass er sich vielleicht hätte waschen sollen, bevor er wie ein Narr zum Haus der Hexe gestürmt war. Beste Voraussetzungen, um die Hexe davon zu überzeugen, den Fluch zu brechen. Großartig.

Er verneigte sich respektvoll vor ihr und zwang sich zu einem Lächeln. »Verzeiht, edle Dame. Ich bin Prinz Conrad aus dem Hause Kellean und suche die Hexe des Nebelwaldes.«

Die Frau bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick, bevor sie langsam die Ärmel ihres Kleides hochkrempelte. »Oh, ich habe also einen vergessen?« Um ihre Mundwinkel zuckte es unheilvoll. »Nun, das lässt sich ändern.«

Conrad sah sie ungläubig an. »Ihr seid die Hexe?«

Ihre Augen wurden schmal. »Oh, hattest du jemand anderen erwartet? Vielleicht jemanden mit mehr Warzen und Buckel?« Sie murmelte etwas Unverständliches, machte eine eigenartige Bewegung mit den Fingern und plötzlich sah Conrad sich einer buckligen Alten gegenüber, die eine fette Warze auf der Nase hatte und eine weitere am Kinn, aus der lange weiße Haare sprossen.

Er prallte erschrocken zurück, seine Hand bereits an seinem Schwert.

»Ist das mehr nach deinem Geschmack?«, krächzte die Alte. Ihr Mund war voller schiefer, gelber Zähne. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, nicht wahr?« Sie machte eine weitere Handbewegung und einen Moment später, stand an ihrer Stelle wieder die hübsche, junge Frau, die sich mit einer Hand die Haare ausschüttelte und Conrad mit blitzenden Augen ansah. »Nun. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja. Ich glaube, du hattest dir noch einen Fluch verdient.«

»Wie bitte?« Conrad schüttelte den Kopf und wich hastig ein paar Schritte zurück, als die Hexe die Finger beugte.

»Nein, nein«, stammelte er und hob abwehrend die Hände. »Ich wollte Euch nicht beleidigen, bitte, Ihr müsst mir glauben!«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und klopfte ungeduldig mit der Stiefelspitze auf den Boden. »Ach, und warum sollte ich das tun?«

Conrad schluckte. Er konnte sich keinen weiteren Fehler mehr erlauben. Wenn sie sich vor seinen Augen in eine alte Frau verwandeln konnte oder in eine junge, zweifelte er nicht daran, dass sie ihn ebenso leicht verfluchen konnte. Er straffte die Schultern und erwiderte ihren Blick.

»Ich bin hier, um Euch um Verzeihung zu bitten für die Nachlässigkeit meines Vaters und … um Euch zu bitten, das Rosenschloss von seinem Fluch zu befreien.«

Sie legte den Kopf auf die Seite und musterte ihn ein weiteres Mal von oben bis unten. »Und was bietest du mir dafür?«

Conrad schluckte erneut. Was hatte er schon zu bieten? Ohne die Schätze der Burg besaß er nicht viel mehr als die Kleider, die er am Leib trug, sein Pferd und das, was von dem Sold der letzten Monate noch übrig war. Nichts, was für eine Hexe von Interesse wäre.

»Ich … ich könnte Euch zu einer reichen Frau machen, nachdem der Fluch gelöst ist. Gold, Silber, was immer Ihr wünscht …«

Sie tippte sich mit einem Finger gegen die geschürzten Lippen und schien seinen Vorschlag ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Conrad atmete erleichtert auf, als sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete.

»Netter Versuch, Prinzlein«, sagte sie. »Aber die Antwort ist nein.« Und damit trat sie einen Schritt zurück und schlug Conrad die Tür vor der Nase zu.

Conrad war für einen Augenblick zu schockiert, um sich auch nur zu rühren. Sie hatte ihm einfach die Tür vor der Nase zugeschlagen! Obwohl er sie um Verzeihung gebeten hatte! Nun, so leicht würde er sich nicht geschlagen geben.

Er klopfte sich notdürftig den Staub aus den Kleidern, richtete sich zu voller Größe auf und schlug sich auf die Wangen, bevor er ein strahlendes Lächeln aufsetzte. Er hoffte, es sah echter aus, als es sich anfühlte. Es war lange her, seit er das letzte Mal versucht hatte, eine Frau zu umwerben.

Er atmete noch einmal tief ein und klopfte wieder an die Tür.

»Du bist immer noch da?«, fragte die Hexe, als sie den Kopf zur Tür heraussteckte. »Du legst es wirklich darauf an, nicht wahr? Jeder andere wäre froh gewesen, so leicht davongekommen zu sein.« Ihr Lächeln erinnerte Conrad unangenehm an den Leitwolf und er konnte den Gedanken gar nicht schnell genug wieder in den hintersten Winkel seines Geistes verbannen. Er hatte sich geschworen, nie wieder daran zu denken.

»Bitte«, sagte er wieder. »Sagt mir wenigstens, was ich –«

Die Tür flog mit einem Krachen ins Schloss.

Conrad rieb sich mit einer Hand den Nacken und unterdrückte ein Seufzen. Der Wirt hatte ihn gewarnt, dass die Hexe sich nicht erweichen lassen würde, aber Conrad hatte nicht vor so leicht aufzugeben. Aller guten Dinge waren bekanntlich drei, nicht wahr? Oder fünf, je nachdem, in welchem Land man sich gerade aufhielt. Er würde sie schon noch erweichen können.

Die Hexe sah ihn einfach nur wortlos an, nachdem sie die Tür auf sein beharrliches Klopfen hin aufgerissen hatte, und klopfte wieder ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden.

Conrad hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. »Ähm …« Großartig, das würde ihr Herz bestimmt im Sturm erobern. Bevor … Vor dem Krieg hatte es nur ein Lächeln von ihm gebraucht und die Mädchen hatten ihm zu Füßen gelegen. »Wollt Ihr mir nicht wenigstens Euren Namen nennen?«

Das Lächeln gefror ihm auf den Lippen, als sich ihre Miene schlagartig verfinsterte und ihre Finger zuckten, als könne sie es kaum erwarten, ihn in eine Kröte zu verwandeln.

»Ihr Adeligen seid doch alle gleich«, zischte sie. »Wenn eine Frau nein zu euch sagt, nehmt ihr das als Zeichen, dass ihr euch nur noch mehr anstrengen müsst. Es würde dir nicht schaden, ein wenig Respekt zu lernen. Genau wie deinem Vater und den anderen beiden eingebildeten Affen, die sich Prinzen nennen.«

Conrad fragte sich unbehaglich, ob sein Vater wirklich einfach nur vergessen hatte, die Hexe einzuladen, oder ob sich vielleicht doch mehr zugetragen hatte, was die Hexe dazu veranlasst hatte, das gesamte Schloss zu verfluchen. Ganz offensichtlich war die Hexe bereits Wieland und Richard begegnet. Das konnte nicht gut ausgegangen sein.

»Es tut mir leid«, sagte er aufrichtig. »Ich habe keine Ahnung, was meine Familie getan hat, um Euch so gegen sich aufzubringen, aber wenn es etwas gibt, das ich tun kann –«

»Du kannst verschwinden«, unterbrach sie ihn. »Bevor ich mich doch noch entschließe, dich zu verwünschen. Verdient hättest du es.«

Conrad hielt es für das Beste, ihren Rat für den Augenblick zu beherzigen, als er sich zum dritten Mal einer geschlossenen Tür gegenübersah.

2

Das Haus blickte noch finsterer drein, als Conrad am nächsten Tag davorstand.

»Was?«, schnappte Conrad. »Ich habe extra meine besten Kleider angezogen!«

Er hatte die formellen Staatsroben seit Jahren nicht mehr angehabt und es grenzte fast an ein Wunder, dass sie all die Jahre in seiner Reisetruhe und danach die Zeit in seinen Satteltaschen überlebt hatten. Sie waren ein wenig verknittert, stanken nach Mottenkugeln und spannten unangenehm in den Schultern, doch er hoffte, die Hexe würde nicht so genau hinschauen.

Er sah das Haus herausfordernd an und kam sich im selben Moment lächerlich vor, dass er versuchte, Eindruck bei einem Haus zu schinden. Hoffentlich hatte die Hexe seinen Ausbruch nicht gehört.

Er warf dem Haus, das ihn immer noch kritisch zu mustern schien, einen letzten Blick zu, bevor er den Rücken durchdrückte, ein weiteres Mal versuchte, die Falten aus seinem Überrock zu streichen, sich noch ein Körnchen Staub vom Stiefel wischte und schließlich an die Tür klopfte.

Nun, da er nicht länger wie ein Landstreicher aussah und der Dreck der langen Reise nicht mehr an ihm haftete, würde die Hexe ihn bestimmt anhören.

Die Tür schwang mit einem Knarren auf und gab den Blick auf die Hexe frei, deren Namen Conrad noch immer nicht hatte herausfinden können. Sie sah nicht sonderlich begeistert aus, ihn zu sehen, aber davon ließ er sich nicht abschrecken.

»Ich fürchte, wir hatten gestern einen schlechten Start. Mein Name ist Conrad, Prinz von Kellean, und ich erbitte Eure Hilfe.«

»Jeder andere hätte sich gefreut, dass er gestern so glimpflich davongekommen wäre, aber du scheinst nicht sonderlich helle zu sein, dass du noch einmal hier aufkreuzt«, meinte die Hexe barsch.

»Ich –«

»Aber was wundere ich mich überhaupt. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, nicht wahr? Nun gut, wer so hartnäckig ist, soll auch belohnt werden.« Sie betrachtete ihn von Kopf bis Fuß und tippte sich mit einem Finger gegen die Lippen, während ihre Fußspitze auf und ab wippte.

Conrad widerstand dem Drang, vor ihr zurückzuweichen. »Ich bin mir sicher –«

»Was hältst du von einer Kröte?«, fragte sie. Die Frage schien jedoch nicht an Conrad gewandt zu sein.

Hinter ihr klapperte die Tür eines Schrankes und die Bodendielen knarzten wie von Zauberhand.

Das fröhliche Lächeln, das sich auf dem Gesicht der Hexe ausbreitete, ließ Conrad misstrauisch werden.

»Wenn Ihr mir einfach nur sagt, wie ich –«

»Genug geredet«, unterbrach sie ihn wieder und ließ die Fingerknöchel knacken. »Große Augen, dicke Lippen und eine Prise Warzen – dann passt das Äußere endlich zum Inneren.«

Conrad wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Sie konnte ihn doch unmöglich in eine Kröte verwandeln wollen! Er hatte ihr doch gar nichts getan!

Als sie begann, leise vor sich hinzumurmeln, wurde Conrad allmählich doch ein wenig mulmig zumute. Sein Instinkt drängte ihn zur Flucht, aber er konnte nicht so einfach aufgeben. »Ich bitte Euch, lasst uns darüber reden«, versuchte er es abermals. »Was auch immer meine Familie Euch angetan hat –« Er brach ab, als ihn ein seltsames Gefühl überkam, das ihn schwindeln machte. Die Hexe verschwamm vor seinen Augen, der Boden schien zu schwanken und er fühlte sich wie betrunken, seine Gedanken langsam und träge, das Licht zu hell, und sein letzter Gedanke war, dass er vielleicht doch noch ein paar Erkundigungen darüber hätte einholen sollen, wie genau sein Vater die Hexe beleidigt hatte.

~*~

Bryn sah mit schmalen Augen auf den Frosch herab, der sich mühsam aus den Kleidern des Prinzen herauskämpfte und immer noch ein wenig benommen wirkte. Sie hatte sich eine dicke, hässliche Kröte vorgestellt, die mit Warzen übersät war. Stattdessen hockte vor ihr ein grüner Laubfrosch mit zarten Gliedern und einer glatten Haut, der alles andere als hässlich war. Irgendetwas musste sie falsch gemacht haben. Ihr war noch nie eine Verwünschung misslungen. Nie! Schließlich verdiente sie ihr täglich Brot mit Flüchen und Verwünschungen.

Es war wirklich eigenartig. Vielleicht lag es am Ausgangsmaterial. Das musste es sein. Vielleicht ließen sich hübsche Prinzen nicht so einfach in warzige Kröten verwandeln. Das würde sie bei Gelegenheit noch einmal überprüfen müssen. Irgendwo ließe sich bestimmt ein weiterer aufgeblasener Prinz auftreiben. Schließlich wollte sie sich nicht nachsagen lassen, es bei ihren Flüchen an der nötigen Sorgfalt mangeln zu lassen.

Der Frosch schüttelte sich wie ein Hund, streckte die Glieder, und sah dann mit großen Augen zu Bryn empor.

»Ich habe dich gewarnt«, meinte Bryn ungerührt.

Der Frosch gab ein heiseres Quaken von sich und blinzelte dann überrascht.

Bryn seufzte. Dann ging sie ins Haus, suchte nach einem geeigneten Vorratsglas und ging wieder nach draußen, wo der Frosch noch immer auf den Kleidern des Prinzen hockte und Bryn mit einem Quaken begrüßte.

Bryn musterte den Frosch einen Augenblick lang, bevor sie das Tier schließlich mit spitzen Fingern hochhob und in das Glas setzte.

Der Frosch gab ein ungehaltenes Quaken von sich und der Ausdruck, mit dem er Bryn ansah, wirkte fast ein wenig vorwurfsvoll.

»Das hast du dir selbst zuzuschreiben«, meinte Bryn ohne das geringste Mitleid. »Wusstest du, dass Froschschleim eine wichtige Zutat in Liebestränken ist?« Es war eigentlich Krötenschleim, aber das musste der Frosch ja nicht wissen.

Der Frosch quakte empört und presste die zarten Finger seiner Vorderfüße von innen gegen das Glas.

»Oh, ich finde, du machst dich ausgezeichnet in deinem Glas. Wesentlich pflegeleichter als ein Prinz, meinst du nicht?«

Der Frosch schwieg beleidigt.

~*~

Am Abend bereute Bryn es bereits, dass sie den Prinzen ausgerechnet in einen Frosch verwandelt hatte. Wer hätte aber auch gedacht, dass Frösche einen solchen Lärm veranstalten konnten? Das Vieh hörte einfach nicht auf zu quaken, sodass sie sich nicht einmal auf die einfachsten Verwünschungen konzentrieren konnte. Es war nicht zum Aushalten!

Bei Einbruch der Dämmerung war sie so entnervt, dass sie das Glas mit dem Frosch schnappte, es sich unter den Arm klemmte und mit langen Schritten aus dem Haus marschierte. Nicht weit entfernt gab es einen Tümpel, dort konnte der dumme Frosch so viel quaken, wie er wollte.

Das Froschkonzert war bereits in vollem Gange, als Bryn den Tümpel erreichte. Der Frosch dachte jedoch gar nicht daran, aus dem Glas zu hüpfen und sich zu seinen Artgenossen zu gesellen, sodass Bryn ihn eigenhändig aus dem Glas fischen und am Ufer des Tümpels absetzen musste. Dort hockte der Frosch dann und bedachte Bryn mit einem finsteren Blick.

»Du hättest ja auch einfach das Maul halten können«, meinte Bryn.

Der Frosch schwieg.

»Wenigstens kannst du dir den Bauch mit Mücken vollschlagen.«

~*~

Bryn lag noch gemütlich in ihrem Bett und dachte darüber nach, ob sie überhaupt aufstehen sollte, als sie ein Geräusch hörte, das verdächtig nach dem Quaken eines Frosches klang. Sie lugte unter der Bettdecke hervor und blickte angestrengt zur Tür, aber als sie nichts weiter hörte, rollte sie sich wieder in ihre Decke ein. Wahrscheinlich hatte sie sich nur verhört.

Sie war beinahe wieder eingeschlummert, als ein neuerliches Quaken sie hochschrecken ließ. Das konnte doch unmöglich … Doch es war kaum überhörbar, dass da etwas vor der Tür saß und lautstark quakte. Bryn starrte zur Tür und rang einen Moment mit sich, bevor sie sich schließlich in die Decke einwickelte, zur Tür stapfte und diese ungehalten aufriss.

Sie bedachte den Frosch, der vor der Tür im Regen hockte, mit einem finsteren Blick. »Was um alles in der Welt hast du hier zu suchen?«

»Quak«, machte der Frosch und sah Bryn vorwurfsvoll an.

Bryn schnalzte mit der Zunge. »Ich habe dich gewarnt. Mehrfach. Und nun mach, dass du fortkommst.« Sie stieß den Frosch vorsichtig mit der Zehenspitze an, als dieser sich nicht vom Fleck bewegen wollte, und knallte die Tür hinter sich zu.

Aber der Frosch war hartnäckiger als gedacht und dachte gar nicht daran zu verschwinden. Als Bryn schließlich die Nase voll hatte, zog sie sich Stiefel und Mantel an, riss die Tür auf und rief: »Du hast es nicht anders gewollt!«

Der Frosch hielt für einen Moment inne in seinem Gequake und versuchte davonzuhüpfen, als Bryn nach ihm griff, aber Bryn war schneller und stopfte den Frosch wieder zurück in sein Glas. »Du glaubst wirklich, du könntest dich mit einer Hexe messen?« Sie lachte höhnisch. »Dir werd ich’s noch zeigen.«

Sie klemmte sich das Glas unter den Arm und marschierte los. Eine halbe Tagesreise entfernt gab es einen großen See. Von dort aus würde der Frosch es unmöglich wieder zurück bis zu Bryns Haus schaffen.

Bryn pfiff fröhlich vor sich hin, während sie durch den Regen stapfte, und malte sich bereits die Ruhe aus, wenn sie den Frosch – und damit auch den lästigen Prinzen – endlich los war und wieder ihren Frieden hatte.

Der Frosch verfiel auf halbem Wege in brütendes Schweigen – wahrscheinlich hatte er eingesehen, dass er gegen Bryn ohnehin nicht gewinnen konnte.

Am See angekommen, holte Bryn das Glas hervor und grinste den Frosch an. »So, da wären wir. Hier kannst du dich so viel aufspielen, wie du willst. Vielleicht wirst du ja König der Frösche, wenn sie dich lassen.

Bryn wartete gar nicht erst darauf, dass der Frosch sich aus dem Glas bequemte, sondern kippte ihn ohne viel Federlesens ins Gras am Ufer des Sees. Der Frosch landete auf dem Rücken und strampelte einen Augenblick mit den Beinen, bevor er sich wieder aufrichtete und zwischen Bryn und dem See hin- und herblickte, als könne er es nicht fassen, dass Bryn ihn hier zurücklassen wollte.

Bryn zuckte nur die Achseln. »Du wirst dich daran gewöhnen.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, machte sie auf dem Absatz kehrt und ging zurück nach Hause.

~*~

»Quak.«

Bryn rollte sich auf die Seite und wunderte sich einen Augenblick lang darüber, warum das Haus neuerdings wie eine Kröte quakte.

»Quak.«

Sie zog sich das Kissen über den Kopf und machte eine scheuchende Bewegung mit der Hand. Es war noch viel zu früh, um aufzustehen, das Haus konnte warten.

»Quak.«

Bryn stutzte. Das war eindeutig kein Knarzen gewesen. Sie lugte unter dem Kopfkissen hervor und blickte zum Fenster. Durch die Läden fiel ein schmaler Lichtstreifen, doch abgesehen davon war nicht viel zu sehen. Sie wollte sich schon wieder herumdrehen, als das Quaken erneut erklang.

Bryn schoss einen vernichtenden Blick in Richtung Fenster, bevor sie sich aus dem Bett schälte, zum Fenster marschierte und die Fensterläden aufwarf.

Als sie nach unten blickte, sah sie einen grasgrünen Frosch, der auf dem Rücken lag und einen Augenblick lang mit den Beinen strampelte, bevor er sich aufrappelte und mit finsterer Miene zu Bryn aufsah.

Bryn konnte es kaum fassen. »Was zum Teufel hast du hier verloren?«

Der Frosch schwieg.

»Wie bist du überhaupt hierhergekommen?« Sie hatte eine Woche lang in seliger Ruhe verbracht, ohne Frösche, nervtötende Prinzen oder sonstige Adelige, hatte in Frieden Gifte brauen und Flüche wirken können. Er musste die ganze Woche unterwegs gewesen sein. Es grenzte an ein Wunder, dass er zwischendurch nicht aufgefressen worden war.

Der Frosch schwieg weiterhin beharrlich.

»Ich will schlafen, also halt gefälligst dein Maul«, schimpfte Bryn, bevor sie die Fensterläden wieder zuschlug und sich zurück ins Bett legte. Ihr Kopf hatte kaum das Kissen berührt, als das Froschkonzert von vorn losging.

Bryn starrte eine Weile an die Decke und fragte sich, wie sie jemals hatte denken können, dass es eine gute Idee wäre, den Prinzen in einen Frosch zu verwandeln. Sie hätte doch wissen müssen, dass Frösche die reinste Plage werden konnten. Den Fehler würde sie kein zweites Mal begehen.

Sie stapfte zum Fenster und warf die Läden erneut auf. Offenbar war der Frosch genauso dumm wie der Prinz, denn er war zum zweiten Mal auf dem Rücken gelandet und musste sich erst mühsam wieder auf die Beine kämpfen.

Der Frosch blickte herausfordernd zurück, als Bryn auf ihn herabsah, und rührte sich auch dann nicht vom Fleck, als Bryn die Ärmel hochkrempelte und die Fingerknöchel knacken ließ.

Was würde wohl besser zu ihm passen? Eine Ratte? Ein Schwein? Oder eine Schnecke? Die würde wenigstens keinen Lärm machen.

Schließlich entschied sie sich für einen Esel, dann wäre der Prinz wenigstens noch zu etwas nütze.

Der Esel sah ein wenig mickrig aus und sein graues Fell wies ein paar kahle Stellen auf, als hätte er eine raue Zeit hinter sich. Irgendetwas musste mit dem Zauberspruch nicht in Ordnung gewesen sein. Vielleicht lag es daran, dass sie eine Kröte in einen Esel verwandelt hatte. Oder es war doch der Prinz. Nicht mal zum Verwünschen taugte er.

»Besser?«, fragte Bryn.

Der Esel blökte.

»Na, wenigstens kannst du heute die Kartoffelsäcke schleppen.«

3

Bryn marschierte wütend hinüber zum Schuppen, aus dem ein lautes Blöken zu hören war. Seit sie den Esel für die Nacht in den Schuppen gesperrt hatte, hatte er nicht aufgehört zu blöken und es trieb sie langsam aber sicher in den Wahnsinn. Sie riss die Tür des Schuppens auf und funkelte den Esel wütend an, der den Kopf einzog und sie aus großen Augen ansah.

Sie verdrängte einen Anflug von Mitleid, indem sie sich daran erinnerte, dass er ein Prinz war, der ihr Mitleid nicht verdient hatte.

»Nur Scherereien habe ich mit dir!«, zischte sie ungehalten.

Der Esel gab ein verhaltenes Blöken von sich.

»Nun, ich habe dich gewarnt. Wer nicht hören will, muss fühlen!«

Der Esel wich vor ihr zurück, als sie einen Strick vom Haken an der Wand nahm und einen einfachen Zauberspruch murmelte. Der Strick zuckte und das Ende hob sich wie der Kopf einer Schlange, bevor er sich drehte und wendete und mit sich selbst verknotete, bis Bryn so etwas wie einen Maulkorb in Händen hielt. Einen sehr schiefen Maulkorb. Aber es würde reichen müssen.

Der Esel wich bis an die Wand zurück und widersetzte sich, als Bryn mit dem Ding auf ihn zukam. Es half auch nicht sonderlich, dass der Maulkorb so schief war, aber schließlich setzte Bryn sich durch und band dem Esel den Maulkorb um.

Der Esel versuchte zu blöken, doch alles, was er zustande brachte, war ein verhaltener Laut, der kaum zu hören war. Er schüttelte ein paar Mal den Kopf, rieb mit dem Gesicht an der Wand und sah Bryn an, die die Hände in die Hüften stemmte und den Blick des Esels mit strenger Miene erwiderte. »Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Ich hoffe, du gibst jetzt endlich Ruhe.«

Aber natürlich gab er keine Ruhe. Nun, da er Bryn nicht mehr mit seinem Blöken in den Wahnsinn treiben konnte, trat er stattdessen gegen die Wände des Schuppens, dass es nur so krachte und Bryn Sorge hatte, dass der Esel die Wand eintreten würde.

Bryn hatte keine Ahnung, wie ein einzelner Mann derart stur sein konnte. Jeder normale Mensch hätte nach der ersten Lektion bereits das Weite gesucht. Aber nicht Conrad – oh nein. Wahrscheinlich lag es am Adelsblut. Inzucht schien die Intelligenz herabzusetzen.

Sie marschierte ein zweites Mal hinüber zum Schuppen, riss die Tür auf und funkelte den Esel an, der mit dem Hinterteil zur rückwärtigen Wand stand, das Hinterbein bereits gehoben.

»Was zum Teufel soll das?«

Der Esel blickte sie vorwurfsvoll an und nickte mehrmals mit dem Kopf.

»Strafe muss sein«, erklärte Bryn.

Der Esel stampfte wütend mit dem Fuß auf den Boden und schüttelte den Kopf.

Bryn schnaubte. »Das hätte ich mir denken können, dass ein verwöhntes Prinzlein wie du wahrscheinlich nie die Rute zu spüren bekommen hat. Tja, da bist du wohl an die Falsche geraten. Ich werde nicht einfach so klein beigeben.«

Der Esel schüttelte wieder den Kopf und trat mit dem Huf gegen die Wand, sodass der ganze Schuppen wackelte.

Bryn hatte genug.

Der Esel beobachtete sie argwöhnisch, als sie einen weiteren Strick hervorkramte und damit auf ihn zukam. Er versuchte ihr auszuweichen, duckte sich und rannte um sie herum, aber in dem kleinen Schuppen konnte er nirgends hin, sodass sie ihn am Ende doch zu fassen bekam. Mit einiger Anstrengung schaffte sie es, den Strick an seinem Maulkorb zu befestigen und musste dann mehrfach seinen Hufen ausweichen, während sie das andere Ende des Strickes an einen schmiedeeisernen Ring im Boden band. Sie hatte sich immer gefragt, wozu man so etwas wohl brauchte, doch nun dankte sie demjenigen ihrer Vorfahren, der in weiser Voraussicht den Ring angebracht hatte.

Bryn achtete darauf, den Knoten festzuziehen und den Strick kurz genug zu halten, dass der Esel mit den Hinterbeinen nicht mehr gegen die Wände treten konnte. Sie räumte noch einen Eimer außer Reichweite, prüfte noch einmal schnell den Knoten, bevor sie sich wieder vor den Hufen des Esels in Sicherheit bringen musste.

Der Esel zerrte an dem Strick und blickte Bryn flehend an, sodass sie fast ein schlechtes Gewissen bekam, ihn so zurückzulassen. Aber er hatte sich vollkommen unmöglich aufgeführt. Strafe musste sein. Außerdem war er kein Tier, sondern ein verwöhnter Prinz. Und hatte er mit seiner Sturheit nicht gezeigt, dass er genauso war wie seine Brüder? Sie rief sich erneut ins Gedächtnis, wie der Rest seiner Familie sie gedemütigt hatte, wie das ganze Königreich über sie gelacht hatte. Nein. Er hatte es nicht besser verdient.

Sie wusste, dass alle sich nur noch daran erinnerten, dass der König sie nicht eingeladen hatte und Bryn war das auch ganz recht so. Das allein jedoch hätte einen Fluch von solcher Tragweite nicht gerechtfertigt und selbst Bryn hatte Regeln, an die sie sich hielt. Ausgleich war wichtig, wenn man mit Flüchen arbeitete. Und dass sie nicht zu Bällen und Festen eingeladen wurde, war Bryn gewöhnt. Niemand wollte gern eine Hexe dabeihaben, die einen verfluchen konnte, wenn man ihr beim Tanz auf den Fuß trat. Nicht einmal sie verfluchte gleich ein ganzes Schloss, nur weil der König ein Idiot war.

Eine fehlende Einladung hatte Bryn noch nie davon abgehalten, zu gehen wohin sie wollte und so war sie am Abend des Balls wie ein geladener Gast ins Schloss spaziert. Der Fluch, den sie für den König ausgewählt hatte, war harmlos und wäre er ein besserer Mann gewesen, hätte er nicht einmal gemerkt, dass Bryn ihn verflucht hatte. Doch da er nun einmal der Mann war, der er war, war Bryn voll auf ihre Kosten gekommen und es hatte ihr eine diebische Freude bereitet, den König dabei zu beobachten, wie er sich jedes Mal zu winden begann, wenn er einer anderen Frau als seiner eigenen schöne Augen machte oder sogar die Hand küsste. Wer hätte gedacht, dass der König sich einen regelrechten Sport daraus machte, anderen Frauen nachzustellen? Oder so ausgesprochen dumm war, dass er nicht merkte, was mit ihm geschah?

Sie hatte sich wunderbar amüsiert, hatte mit zahlreichen Adeligen getanzt und sogar mit Prinz Richard, dem jüngeren der beiden Prinzen, der ihr zu ihrem Verdruss beinahe die Finger zerquetscht und ständig auf ihre Brüste geglotzt hatte, bis sie überlegt hatte, ihn genauso wie seinen Vater zu verwünschen. Doch abgesehen davon war es ein wirklich gelungener Abend gewesen, bis Kronprinz Wieland sie zum Tanz aufgefordert hatte. Er war ein besserer Tänzer als sein jüngerer Bruder, aber kein besserer Konversationspartner und auch er hatte nur Augen für ihr Dekolleté gehabt. Und als die Musik verklang, hatte er sich vorgebeugt, bis sein feuchter Atem ihr Ohr streifte. Sie hörte noch immer seine schmierige Stimme in ihrem Ohr: Ich habe mich immer gefragt, was eine Hexe wohl unter ihren Röcken hat. Wollt Ihr Eurem Prinzen nicht einen kurzen Blick gewähren?

Nun, was hätte sie denn anderes tun können, als ihm für seine Dreistigkeit eine schallende Ohrfeige zu verpassen? Und auf einmal war sie diejenige gewesen, auf die Waffen gerichtet waren, weil sie angeblich den Kronprinzen angegriffen hatte.

Alle hatten gelacht, während die Wachen sie aus dem Schloss geworfen hatten.

Sie war so durcheinander gewesen, dass sie erst wieder zu sich gekommen war, als sie außerhalb der Schlossmauern stand. Ihr Mieder saß nicht mehr richtig, ihr Kleid war zerrissen, weil die Wachen auf den Saum getreten waren, und sie war so wütend, dass sie einen Augenblick lang das Gefühl hatte, platzen zu müssen.

Dann war ihr Blick auf die Rosen gefallen, die sich an den Schlossmauern emporrankten und sie war schließlich diejenige gewesen, die zuletzt gelacht hatte.

Conrad war genau wie seine abscheulichen Brüder. Hatte er ihr nicht auch versucht, schöne Augen zu machen? Sie mit seinem Charme zu beeindrucken? Er sah sogar aus wie die beiden anderen Lackaffen, groß und muskulös mit rotbraunen Locken und einem dümmlichen Lächeln im Gesicht.

Nein. Eine Nacht angebunden im Schuppen würde ihm hoffentlich ein paar Manieren beibringen.

~*~

Bryn schlief ausgesprochen schlecht. Zwar hatte der Esel endlich Ruhe gegeben, aber sein flehender Blick verfolgte sie bis in ihre Träume, sodass sie missmutig und in übelster Laune am nächsten Morgen aus dem Bett kroch. Seit dieser vermaledeite Prinz hier aufgetaucht war, hatte sie nichts als Ärger gehabt. Vielleicht sollte sie den Esel verkaufen. Dann könnte sie wenigstens noch einen finanziellen Nutzen aus der ganzen Sache ziehen. Nachdem sie sich einen Kräuteraufguss gebrüht und ein herzhaftes Frühstück mit Eiern und Speck genossen hatte, ging sie hinüber zum Schuppen, um den Esel herauszulassen.

Sie blieb wie angewurzelt stehen, als sie die Tür öffnete und ihr Blick auf den Esel fiel. Sein Fell war schweißnass und es sah so aus, als hätte er so sehr an dem Strick gezerrt, dass der Maulkorb ihm in die Haut geschnitten und blutige Striemen hinterlassen hatte. Und er zitterte am ganzen Leib.

Bryn konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein so schlechtes Gewissen gehabt zu haben. Vielleicht hätte sie gestern doch nicht so vorschnell handeln sollen. Nun war es zu spät.

Eine Weile stand sie unschlüssig herum und betrachtete die mitleiderregende Kreatur, bevor sie sich dem Esel langsam näherte, darauf bedacht, ihn nicht noch weiter zu verschrecken.

Das Zittern wurde noch stärker, und der Esel riss die Augen so weit auf, dass das Weiße hervortrat.

Bryn bemühte sich um einen sanften Tonfall, als sie auf ihn einredete. Es war fast noch schwieriger, den Maulkorb wieder abzubekommen, als ihn aufzuziehen, nicht zuletzt, weil der Esel sich auch diesmal wieder vehement zur Wehr setzte. Kaum dass er frei war, schoss der Esel an Bryn vorbei und aus dem Schuppen heraus. Bryn war sich sicher, dass er das Weite suchen würde, aber als sie aus dem Schuppen trat, lugte der Esel hinter dem Stamm einer nahestehenden Eiche hervor, zog jedoch rasch den Kopf ein, als er Bryn sah.

Bryn seufzte. So ungern sie es auch zugab, aber diesmal war sie tatsächlich zu weit gegangen. Nun, was geschehen war, war geschehen, aber zumindest konnte sie den Prinzen wieder in einen Menschen zurückverwandeln. Seine Lektion würde er hoffentlich gelernt haben und Bryn nicht länger auf die Nerven gehen.

Sie schob die Ärmel bis zu den Ellenbogen hoch, ließ die Fingerknöchel knacken und versuchte sich an den Gegenspruch zu erinnern. Es kam so selten vor, dass sie einen Fluch oder eine Verwünschung brechen musste, dass die Zaubersprüche ihr nicht ganz so geläufig waren. Sie murmelte einige Male vor sich hin, aber es klang alles nicht ganz richtig und nach allem, was der Prinz durchgemacht hatte, wollte sie ihn nicht noch versehentlich in irgendein Zwitterwesen verwandeln oder Schlimmeres. Also ging sie zurück ins Haus und kramte in ihren Zauberbüchern nach dem richtigen Spruch.

Der Esel hatte sich in der Zwischenzeit hinter der Eiche hervorgewagt und war gerade damit beschäftigt, die Eicheln vom Boden aufzuklauben und genüsslich zu verspeisen. Er erstarrte, als Bryn mit einem Zauberbuch unter dem Arm aus dem Haus trat, und schien nicht einmal mehr zu atmen, das Maul eine Handbreit über einer Eichel.

Er zuckte zusammen, als Bryn das Buch aufschlug, rührte sich jedoch nicht vom Fleck, als hätte er die Hoffnung, Bryn würde ihn nicht sehen, wenn er sich nicht bewegte. Bryn ignorierte ihn und rezitierte stattdessen den Spruch, den sie in einem Zauberbuch ihrer Urgroßmutter gefunden hatte. Ihre Stimme hallte über die kleine Lichtung und aus dem Augenwinkel sah sie, wie der Esel den Kopf hob und einen halbherzigen Schritt zurückwich und dann wieder stehenblieb und die Ohren in ihre Richtung drehte, als könne er sich nicht entscheiden, ob es besser war, davonzulaufen oder zu bleiben.

Der Spruch war lang, die Worte ungewohnt und Bryn musste sich konzentrieren, um keinen Fehler zu machen. Sie spürte das Prickeln auf der Haut, als die Magie zu fließen begann und die Worte ihre Macht entfalteten. Die Luft um den Esel begann zu flimmern und es sah so aus, als würden tausend Glühwürmchen um ihn herumwirbeln, als die Magie ihn einhüllte und aus dem Esel wieder einen Menschen machte.

Conrad stieß einen überraschten Schrei aus, als er der Länge nach hinfiel. Er schüttelte sich wie ein Hund, rappelte sich dann auf und schoss Bryn einen undeutbaren Blick zu, während er rückwärts wie eine Krabbe vor ihr davonkroch, bis er die Eiche im Rücken hatte.

Erst dann schien er zu bemerken, dass er splitterfasernackt war, denn er gab einen überraschten Laut von sich und bedeckte sich hastig mit einer Hand, während er sich mit der anderen am Baum hochzog. Seine Beine zitterten noch ein wenig und er schwankte einen Moment lang, bis er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte.

Er sah Bryn direkt an, und Bryn versuchte nicht auf den blutigen Striemen zu achten, der quer über seine Nase verlief, während sie seinen Blick erwiderte. Sie würde sich nicht entschuldigen. Dass sie ihn überhaupt zurückverwandelt hatte, war schon mehr als großzügig gewesen.

Conrad wandte die Augen als Erster ab und sah sich ein wenig gehetzt nach allen Seiten hin um, als fürchte er einen Angriff. Er schob sich langsam am Stamm der Eiche vorbei, wobei er Bryn nicht aus den Augen ließ, und erst, als er fast hinter dem Stamm verschwunden war, drehte er sich hastig um und rannte davon.

Es war eine Schande, dass sie ihn vergrault hatte, dachte Bryn, während sie ihm hinterherblickte, denn sein Hinterteil war wirklich nicht zu verachten.

4

Das Knarzen der Bodendielen und das aufgeregte Klappern der Fensterläden informierte Bryn darüber, dass Besuch im Anmarsch war.

Bryn sah mit kritischem Blick auf den Liebestrank, der leise über dem Feuer vor sich hin köchelte. Noch ein paar Minuten, bevor sie den Teufelsdreck einstreuen musste.

»Wer auch immer es ist, kann warten«, murmelte sie und rührte einmal gegen den Uhrzeigersinn durch die trübe Brühe.

Der Fensterladen klapperte ungeduldig.

»So wichtig wird es schon nicht sein«, gab Bryn zurück.

Die Bodendielen protestierten energisch.

»Nein«, erklärte Bryn.

Einen Augenblick später schwang die Tür mit einem vorwurfsvollen Quietschen auf und ließ einen Windstoß ins Haus hinein, der Bryn durch die Haare fegte und das Feuer aufstieben ließ. Die Brühe im Kessel blubberte einmal auf, bevor sie sich grün färbte. Ein sicheres Zeichen dafür, dass der Wind irgendetwas hineingeblasen hatte, das dort nicht hineingehörte. Wahrscheinlich eine Motte.

»Zufrieden«, zischte Bryn mit einem ärgerlichen Blick hinauf ins Gebälk.

Ein Räuspern lenkte Bryns Aufmerksamkeit zur Tür und Bryn erkannte den Grund für die Aufregung des Hauses. Dort draußen stand niemand anderer als Seine Nervigkeit Prinz Conrad von und zu Dummkopf. Wie ein Unglückspfennig schien er immer wieder zu ihr zurückzukehren.

Er hatte noch immer einen roten Striemen quer über der Nase und zwei weitere, die von seinen Schläfen bis zu seinem Kieferknochen verliefen. Man hätte meinen können, dass er seine Lektion gelernt hatte.

»Ich …« Conrad schluckte nervös, räusperte sich einmal und straffte dann die Schultern. »Ich weiß, dass ihr nicht sonderlich gut auf mich oder meine Familie zu sprechen seid und, bedenkt man, wer meine Brüder sind, kann ich es Euch nicht einmal verdenken, aber ich …« Er streckte den Arm aus, den er bisher hinter dem Rücken gehalten hatte, und hielt Bryn ein Sträußchen mit Gänseblümchen entgegen, das geradezu winzig in seiner großen Hand wirkte.

»Ich … wollte mich noch einmal in aller Form bei Euch entschuldigen. Für meine Familie«, stammelte Conrad und streckte ihr den Strauß noch ein Stückchen weiter entgegen, sodass die Blumen mit den Köpfen wackelten.

Bryn sah die Gänseblümchen misstrauisch an. Es passte so gar nicht in das Bild eines Prinzen. Hatte er sie selbst gepflückt? Bryn konnte es sich kaum vorstellen, wie er in seinen schicken Kleidern über die Wiese kroch und Gänseblümchen pflückte. Aber wo sollte er sie sonst herhaben?

Als Bryn keine Anstalten machte, die Blumen anzunehmen, ließ Conrad beschämt die Hand sinken und seine Wangen färbten sich leuchtend rot.

»Ich dachte … nun, ähm …« Er sah ein wenig geknickt auf die Blumen hinunter, bevor er die Hand wieder hinter dem Rücken versteckte. Er wirkte so verlegen, dass Bryn schließlich Mitleid mit ihm hatte.

»Gib schon her«, meinte sie schroff und machte eine auffordernde Geste mit der Hand, als Conrad sich nicht sofort bewegte. Zögernd streckte er die Hand aus, seine Wangen noch dunkler als vorher. Bryn nahm behutsam die empfindlichen Pflänzchen entgegen, die schon ein klein wenig mitgenommen aussahen, weil Conrad sie offenbar zu fest in der Hand gehalten hatte. Sie kramte in den Regalen nach einem sauberen Glas, das klein genug für die kurzen Stängel war, und füllte es mit Wasser aus dem Krug, der auf dem Tisch stand.

Conrad stand noch immer in der Tür, die Hände mittlerweile hinter dem Rücken verschränkt, seine Haltung steif und militärisch.

Bryn hatte keine Ahnung, ob sie von seiner Hartnäckigkeit beeindruckt oder über seine Dummheit verärgert sein sollte.

»Ich hatte gehofft, dass es irgendetwas gäbe, was ich tun könnte, um den Schaden, der Euch entstanden ist wiedergutzumachen«, erklärte er schließlich.

Bryn verschränkte die Arme vor der Brust. »Und da kommst du mit ein paar selbstgepflückten Gänseblümchen?«

Conrad öffnete den Mund und schloss ihn wieder und ihm schoss von Neuem die Röte ins Gesicht. Interessant. Bryn hatte immer gedacht, es gäbe nichts, was einen Prinzen in Verlegenheit bringen könnte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der König jemals rot geworden wäre. Oder die anderen beiden Lackaffen.

Bryn seufzte. Vielleicht war es wirklich die Inzucht. Es konnte nicht anders sein. War er nicht der dritte Sohn? Wahrscheinlich war für ihn nicht mehr viel Verstand übrig gewesen.

»Wenigstens haben Gänseblümchen eine gute Heilwirkung«, gab Bryn widerstrebend zu, als sie den geknickten Ausdruck auf Conrads Gesicht nicht länger ertragen konnte. Nicht dass Bryn sich sonderlich auf Heilsalben verstand, aber eine Gänseblümchensalbe bekam sogar sie hin.

»Wirklich?«, fragte Conrad und schien ein wenig aufrechter zu stehen.

Bryn widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen. »Wirklich. Also. Was gedenkst du zu tun?«

»Nun, Ihr wolltet kein Gold, aber vielleicht könnte ich für Euch arbeiten. Ich bin sicher, dass das ein oder andere anfällt, wofür Ihr ein zweites Paar Hände gebrauchen könntet.«

Bryn sah ihn ungläubig an und war sich sicher, dass sie sich verhört hatte. Er konnte unmöglich vorgeschlagen haben, für sie zu arbeiten. Er war ein Prinz! Er wusste doch gar nicht, was Arbeit überhaupt war.

»Und was genau stellst du dir unter Arbeit vor?«, fragte sie misstrauisch.

Conrad zuckte die Achseln. »Ich könnte schwere Dinge für Euch tragen, Wasser holen, Reparaturen am Haus erledigen, Kartoffelsäcke schleppen …« Er grinste breit und dachte zweifellos an seine Zeit als Esel.

Bryn hingegen wollte lieber nicht daran denken.

Die Fensterläden klapperten zustimmend und die Dielen knarrten. Verräter, dachte Bryn mit einem Anflug von Ärger. Wahrscheinlich wusste Conrad noch nicht einmal, wie man einen Nagel einschlug. Aber beim Wasserschleppen konnte man nicht viel falsch machen. Und vielleicht konnte sie ihn ausschicken, um Taubendreck zu sammeln. Der Gedanke war gar nicht so schlecht. Und sie musste den Fluch, der auf dem Rest seiner Familie lag, ja nicht lösen, ganz gleich wie lange er für sie arbeitete.

»Also gut«, gab Bryn schließlich nach.

Conrads Miene hellte sich augenblicklich auf.

»Aber du schläfst im Schuppen!«, setzte sie hastig hinzu.

Ein Schatten huschte über Conrads Gesicht und Bryn unterdrückte einen Anflug von Schuldgefühlen, während sie sich bemühte, nicht auf die Striemen in Conrads Gesicht zu starren.

»Solange Ihr mich nicht wieder festbindet«, sagte er mit einem schiefen Grinsen.

»Das ließe sich einrichten«, meinte Bryn und hoffte inständig, dass sie ihre Entscheidung nicht bereuen würde.

5

»Was zum Teufel machst du da oben?«

Conrad schlug den Nagel ein und blickte dann von seinem Platz auf dem Dachfirst auf die Hexe hinab. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt und ihre Augen funkelten wütend. Conrad hatte sich schon gefragt, wie lange es wohl dauern würde, bis sie sich über sein Hämmern beschwerte.

»Na, das Dach reparieren.« Conrad stellte amüsiert fest, wie ihm die Fensterläden Beifall klatschten.

Die Hexe warf den Läden einen vernichtenden Blick zu, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Conrad richtete.

»Geht das auch leiser?«, schimpfte sie.

Sie wirkte zerzaust, als wäre sie gerade erst aus dem Bett gekrochen, obwohl es fast Mittag war. Conrad würde sich bald um das Essen kümmern müssen.

»Leider nicht«, sagte er mit einem Achselzucken. »Aber ich sollte im Laufe des Nachmittags fertig werden.«

»Ich werde dich nicht zusammenflicken, wenn du von da oben runterfällst!«, rief sie ungehalten.

Conrad grinste. »Ich bin sicher, dass das Haus nicht zulassen wird, dass ich herunterfalle.« Er tätschelte die Dachschindeln.

Unter ihm klatschten die Fensterläden wieder ihre Zustimmung.

Die Hexe sah ihn aus schmalen Augen an. »Aber wenn nicht, bist du gewarnt.«

Conrads Grinsen wurde noch breiter. »Ich wusste doch, dass Euch etwas an mir liegt.« Wenn man sich von ihrer griesgrämigen Art nicht einschüchtern ließ, war die Hexe eigentlich ganz umgänglich. Sie brauchte genügend zu essen, es war besser, wenn er sie morgens ausschlafen ließ, und sie war nach Einbruch der Dunkelheit für gewöhnlich am besten gelaunt. Nur ihren Namen hatte Conrad noch nicht aus ihr herauslocken können. Aber er war guter Dinge, dass es nur eine Frage der Zeit war.

Sie geriet ins Stammeln und zeigte dann mit dem Finger auf ihn. »Du musst noch Kartoffeln schälen!«

Er unterdrückte ein Lachen. Wenn sie in dieser Stimmung war, mochte sie es gar nicht, wenn er lachte. »Die sind bereits geschält. Und ich werde mich gleich ums Essen kümmern, keine Sorge.«

Sie blinzelte verwundert, dann verschwand sie aus seinem Sichtfeld.

Conrad lachte leise, als er den nächsten Nagel einhämmerte. Er liebte es, sie zu überraschen. Conrad wusste, dass sie ihn für einen verhätschelten Prinzen hielt, der sich ohne einen Diener nicht einmal ankleiden konnte. Aber wenn sie seine beiden älteren Brüder Wieland und Richard getroffen hatte, dann konnte er es ihr nicht einmal verdenken.

Ihr Gesichtsausdruck, als er den ersten Morgen in einfacher Kleidung vor ihr aufgetaucht war, war unbezahlbar gewesen.

Er pfiff leise vor sich hin, während er sich langsam über das Dach arbeitete. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er sich das letzte Mal so ausgelassen und frei gefühlt hatte. Früher vielleicht, bevor er zum Militär gegangen war, als er – sehr zum Verdruss seiner Eltern – seine Schwester Iffi durchs Schloss gejagt hatte.

Es fühlte sich gut an, zur Abwechslung einmal etwas zu reparieren, besser zu machen, anstatt überall von Blut und Tod umgeben zu sein. Er unterdrückte ein Schaudern und konzentrierte sich darauf, den nächsten Nagel einzuschlagen. Das Dach hatte wahrhaftig bessere Tage gesehen. »Aber wir bekommen dich schon wieder hin«, murmelte Conrad und streichelte die verwitterten Schindeln.

Der Schornstein stieß ein erfreutes Rauchwölkchen aus.

Conrad lachte wieder. Er hätte sich lächerlich vorkommen müssen, mit einem Haus zu sprechen. Wieland und Richard hätten ihn ganz sicher ausgelacht, während Vater nur missbilligend die Augenbraue gehoben hätte. Doch das Haus war auf eine seltsame Weise lebendig und es erfüllte Conrad jeden Tag neu mit Staunen, wie viel Persönlichkeit es hatte. Conrad beneidete die Hexe fast ein wenig um ihr Haus. Er befestigte noch eine weitere Schindel, bevor er vom Dach kletterte, um das Essen aufzusetzen. Er hatte schnell herausgefunden, dass eine Hexe, die gut darin war, Gifte zu brauen und Flüche auszusprechen, nicht unbedingt die beste Wahl war, um ein genießbares Mahl zuzubereiten. Umso mehr amüsierte es ihn, wie sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihr Conrads Essen besser schmeckte als ihr eigenes, und fand jedes Mal irgendetwas zu bemängeln.

Aber wenn die Art, wie sein Vater sie behandelt hatte, die Art war, wie auch andere sie behandelten, dann konnte er ihre griesgrämige Art sogar ein wenig verstehen. Bisweilen wunderte es ihn, dass er nicht selbst so war, hatten doch sowohl sein Vater als auch seine Brüder ihm bei jeder Gelegenheit zu verstehen gegeben, dass er als dritter Sohn überflüssig war.

Fast wünschte er sich, die Hexe würde sich noch ein wenig Zeit lassen, den Fluch zurückzunehmen. Er mochte das einfache Leben bei ihr.

Die Hexe musterte ihn unverhohlen während des Essens, doch daran war Conrad mittlerweile gewöhnt. Er hatte noch nicht herausgefunden, ob sie nicht wusste, dass der Rest des Königreiches ihn als Helden feierte, ob es ihr vollkommen gleichgültig war oder das vielleicht der Grund war, weshalb sie ihn nicht leiden konnte – abgesehen von seiner Herkunft und seinen nichtsnutzigen Brüdern.

Er dachte noch immer darüber nach, als er sich wieder aufs Dach schwang, um auch den Rest auszubessern. Die Dachsparren knarrten ungeduldig wie ein aufgeregtes kleines Kind. Fast erwartete er, dass das Dach auf und ab hüpfte.

Als er am späten Nachmittag nach getaner Arbeit verschwitzt und müde vom Haus kletterte, überraschte die Hexe ihn mit einem kühlen Glas Wasser und einem frischen Kuchen. Er war so gerührt, dass er sie am liebsten umarmt hätte, aber dann hätte sie ihn sicherlich wieder in einen Frosch verzaubert. Also beschränkte er sich darauf, ihr ein strahlendes Lächeln zu schenken und ihr überschwänglich zu danken, denn so schlecht sie auch im Kochen war, ihre Kuchen waren eine Wonne. Nun, zumindest der eine Kuchen, den sie backen konnte.

Die Hexe beäugte ihn misstrauisch und grummelte etwas Unverständliches, doch als sie sich abwandte, erhaschte er noch einen kurzen Blick auf einen zuckenden Mundwinkel.

Oh, er würde sie schon noch erweichen. Immerhin hatte er schon das Haus auf seiner Seite.

6

Wie sich herausstellte, wusste Conrad sehr wohl, wie man einen Nagel einschlug und er wusste darüber hinaus auch noch einige andere Dinge, die Bryn ihm niemals zugetraut hätte. Er besserte das Dach aus, schleppte eimerweise Wasser und beschwerte sich nicht einmal, als Bryn ihn als Packesel missbrauchte und säckeweise Alraunen, Kartoffeln und Rüben in die Speisekammer schleppen ließ.

Sogar einen Unterstand für sein Pferd hatte er zu Bryns Verblüffung eigenhändig gezimmert, der erstaunlich solide wirkte.

Das Haus hatte ihn ohnehin ins Herz geschlossen, öffnete ihm die Tür, wann immer er in der Nähe war, und winkte jedes Mal mit den Fensterläden, wenn Conrad vorbeiging. Und seitdem Conrad das Dach repariert hatte, ohne dass Bryn ihn darum gebeten hatte, war das Haus Conrad völlig verfallen und in dessen Gegenwart zu nichts mehr zu gebrauchen. Es half auch nicht sonderlich, dass Conrad das Haus auch noch ermutigte, indem er mit ihm redete oder gar zurückwinkte. Was zum Teufel fiel ihm ein, ihr eigenes Haus für sich einzunehmen? Er würde das Haus noch vollkommen verziehen.

Als sie ihm auftrug, einen ganzen Sack Kartoffeln zu schälen, machte er sich nicht nur klaglos an die Arbeit, sondern war dabei auch noch so gründlich und schnell, dass Bryn nicht einmal etwas an seiner Arbeit aussetzen konnte, sondern sich insgeheim eingestehen musste, dass er es sogar besser gemacht hatte, als Bryn es selbst gekonnt hätte.

Als sie ihn ausschickte Froschlaich zu sammeln, fragte er nur nach dem Weg und nach einem Eimer. Nicht einmal, als er Wildschweindreck sammeln sollte, beklagte er sich, sondern ging seiner Aufgabe mit einer stillen Sorgfalt nach, die Bryn allmählich in den Wahnsinn trieb. Er war ein Prinz. Wieso jammerte er nicht unentwegt?

Bryn überließ ihm den Abwasch, ließ ihn die Latrine putzen, Unkraut jäten und Taubendreck sammeln, sie gab ihm jede nur erdenkliche Aufgabe, die sie selbst hasste, und dachte sich noch ein paar weitere aus, doch es hatte fast den Anschein, als würde es ihm Spaß machen, tagein, tagaus wie ein Diener für sie zu schuften. Und nicht ein einziges Mal fragte er sie, ob sie nicht endlich den Fluch von seiner Familie nehmen würde.

Manchmal beschlich sie das Gefühl, dass er vor irgendetwas davonlief und es ihm gleich war, ob sie den Fluch brach oder nicht, solange er sich bei ihr verstecken konnte.

Aber das war natürlich völliger Unsinn. Wovor sollte sich ein Prinz verstecken müssen?

Im Moment war er dabei, Holz für den Winter zu hacken. Sie hätte ja darauf wetten können, dass er sich dabei einen Finger abschlug oder Schlimmeres, aber bisher war nichts dergleichen geschehen. Woher wusste er überhaupt, wie man Holz hackte? Sie hatte es ihm erklären wollen, aber er hatte ihr nur die Axt aus der Hand genommen und sich mit einem frechen Grinsen, für das sie ihn am liebsten verwünscht hätte, ans Werk gemacht.

Sie beobachtete ihn eine Weile vom Fenster aus, natürlich nur, um sicherzugehen, dass er auch wirklich wusste, was er tat – und es hatte rein gar nichts mit dem Spiel seiner überraschend beachtlichen Muskeln zu tun –, bevor sie sich endlich an ihre eigene Arbeit gemacht hatte. Ihr Vorrat an Liebestränken ging allmählich zur Neige und es gab noch ein paar Aufträge für kleinere Verwünschungen, die sie noch erledigen musste.

Sie war so in ihre Arbeit vertieft, dass sie gar nicht merkte, dass das gleichmäßige Schlagen der Axt aufgehört hatte, und schreckte zusammen, als Conrad an den Türrahmen klopfte – denn natürlich stand die Tür schon wieder sperrangelweit offen. Verräterisches Haus.

Conrad wischte sich den Schweiß von der Stirn und lächelte sie an. »Ich habe die Scheite an der Hauswand zum Trocknen aufgeschichtet. Gibt es sonst noch etwas, was ich tun kann?«

Bryn dachte schnell nach. Es war erst Mittag, irgendetwas musste sie für ihn zu tun finden. »Im Moor wächst ein rotes Schilfgras. Davon brauche ich einen Korb voll. Aber das kann warten bis nach dem Essen.« Denn sein Essen würde sie sich ganz sicher nicht entgehen lassen. Das war vielleicht das Seltsamste überhaupt an ihm. Ihr war noch nie ein Mann untergekommen, der kochen konnte, geschweige denn ein Prinz. Zugegeben, er kochte für gewöhnlich nur einfach Dinge – Eintöpfe und dergleichen –, doch alles, was er bisher gemacht hatte, hatte himmlisch geschmeckt, tausend Mal besser, als alles, was Bryn zustande brachte – auch wenn sie ihm das niemals sagen würde.

Bei der Erwähnung des Moores, trübte sich sein Blick ein wenig und ein Schatten huschte über sein Gesicht. Bryn wollte bereits triumphieren, als Conrad sich sichtlich zusammenriss und mit einem Lächeln, das ein wenig gezwungen wirkte, fragte: »Wie genau sieht es aus, damit ich nicht wieder das Falsche mitbringe?«

Bryn musterte ihn einen Augenblick lang, während sie versuchte den Grund für die Schatten, die noch immer in seinen Augenwinkeln nisteten, zu ergründen. Es war nicht das erste Mal, dass sie das Gefühl hatte, dass da noch mehr hinter seinem hübschen Äußeren verborgen war, dass es einen Grund für die Schatten gab.

Doch so schnell sie gekommen waren, waren die Schatten wieder verschwunden, und Conrad hob fragend eine Braue, als sie noch immer nicht antwortete.

Bryn schüttelte sich und schalt sich eine Närrin. Er war ein Prinz. Das Einzige, was er verbarg, war wahrscheinlich seine Abneigung gegen jegliche Form von körperlicher Arbeit.

»Es gibt nur eine Sorte rotes Schilf, mach dir keine Sorgen«, erwiderte Bryn.

Während des Essens war Conrad ungewöhnlich still und Bryn ertappte ihn mehr als einmal dabei, wie er gedankenverloren ins Leere starrte. War es die Aussicht aufs Moor, die ihn so bedrückte?

»Du musst nicht gehen«, hörte sie sich zu ihrem eigenen Entsetzen sagen und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Was war nur in sie gefahren? Sie würde doch nicht etwa Mitleid für ihn entwickeln? Offenbar hatten die Liebestränke ihr das Gehirn weichgekocht.

Sein Lächeln wirkte nicht echt und warum zum Teufel kümmerte sie das überhaupt? Tat es nicht, ganz einfach.

»Es ist nur ein wenig Schilfgras«, sagte er mit diesem unheimlichen gezwungenen Lächeln, das so gar nicht zu dem Conrad passte, mit dem sie seit Wochen zusammenlebte. »Ich bin zum Abendessen wieder zurück.«

Er räumte das Geschirr weg, nachdem sie mit dem Essen fertig waren, und machte sich klaglos an den Abwasch. Als er danach jedoch keine Anstalten machte, zu verschwinden, verschränkte Bryn die Arme vor der Brust und sah ihn erwartungsvoll an. »Hast du deine Meinung doch geändert?«

»Ich brauche noch einen Korb«, meine Conrad mit seinem üblichen frechen Grinsen, seine seltsame Stimmung offenbar verflogen.

Bryn hätte sich selbst ohrfeigen können, dass sie an den Korb nicht selbst gedacht hatte, kramte einen aus der Speisekammer hervor und überreichte ihn Conrad mit einem finsteren Blick, der den Prinzen jedoch nicht im mindesten zu kümmern schien. Wie konnte er nur immer so gut gelaunt sein? Es musste Inzucht sein.

»Komm nicht zu spät zurück«, mahnte sie.

Er winkte nur vergnügt, während er fröhlich pfeifend in den Wald spazierte.

Bryn blickte ihm mit schmalen Augen hinterher und sah dann zum Himmel hinauf, der sich im Laufe des Tages immer mehr zugezogen hatte und bereits die ersten Regentropfen fallen ließ. Nun, das würde ihm bestimmt seine gute Laune verderben. Mit einem letzten Blick in die Richtung, in die Conrad verschwunden war, duckte sie sich zurück ins Haus und zog die Tür hinter sich zu.

~*~

Conrad war bis auf die Knochen durchnässt, als er am Abend wieder zurückkehrte und seine sonst so fröhliche Stimmung schien angesichts des Wetters doch einen leichten Dämpfer erhalten zu haben.

»Stell den Korb im Schuppen ab«, befahl Bryn, als er tropfnass in der Tür stand und den Regen mit hineinbrachte. »Ich bringe dir noch eine Decke«, setzte sie nach kurzem Zögern hinzu.

Conrad nickte wortlos und stapfte durch den strömenden Regen hinüber zum Schuppen.

Sie holte rasch eine Decke und goss dann noch eine Tasse von dem Kräuteraufguss ein, den sie sich selbst gebrüht hatte und packte ihm noch ein großes Stück Kuchen ein. Nachdem er so hart gearbeitet hatte, hatte er sich beides redlich verdient.

Conrad war gerade dabei, seine Hosen auszuwringen, als Bryn in den Stall platzte und sich den Regen abschüttelte. An der Decke baumelte eine Laterne, die ein schummriges Licht verbreitete und flackernde Schatten auf die Wände malte.

Bryn hielt ihm Tasse und Decke entgegen. »Hier die Decke und ich habe dir noch einen Kräuteraufguss mitgebracht.« Dann fiel ihr der Kuchen ein und sie hielt ihm das kleine Körbchen entgegen. »Und ein Stück Kuchen. Du hast sicher Hunger.«

Sein Blick wurde weich und sein Mund verzog sich zu einem müden Lächeln, bei dem sie ein seltsames Ziehen im Bauch verspürte. »Danke. Das ist sehr freundlich von Euch.«

Bryn nickte nur und stand einen Augenblick verlegen herum. »Oh, brauchst du vielleicht noch mehr zu essen? Es ist noch etwas vom Abendbrot da. Ich hole schnell …«

»Nicht nötig«, unterbrach Conrad sie, während er sich mit der Decke die dunklen Locken rubbelte. »Ich habe keinen Hunger.«

Bryn musterte ihn misstrauisch. Er hatte keinen Hunger? Conrad hatte immer Hunger. Er war wie ein Bär, besonders wenn er den ganzen Tag gearbeitet hatte. »Geht es dir gut?«, fragte sie und wusste nicht, wo die plötzliche Sorge um ihn herkam.

Sein Lächeln war voller Schatten. »Natürlich«, sagte er. »Benötigt Ihr noch etwas?«

Sie starrte ihn an, bis ihr aufging, dass er eine Frage gestellt hatte. »Ich?«, fragte sie entgeistert, als ihr einfiel, dass sie sonst auch keine Hemmungen hatte, ihn spät abends noch herumzuscheuchen. »Oh nein«, versicherte sie ihm rasch. »Das genügt für heute. Danke für das Schilfgras.« Sie deutete mit dem Kinn auf den Korb mit tropfendem Schilf, der neben der Tür stand.

Conrad nickte. »Gern geschehen.«

Bryn starrte auf das Hemd, das an seiner Brust klebte und seine triefnasse Unterhose, die nicht sonderlich viel verbarg.

»Ich … lasse dich dann besser allein«, meinte sie hastig. »Gute Nacht, Conrad.«

»Gute Nacht«, rief er ihr hinterher, als sie hinaus in den Regen flüchtete.

7

»Conrad!«

Die Tür flog vor ihrem Ärger auf und krachte gegen die Wand, dass der Schuppen nur so wackelte. Das sollte ihn hoffentlich aufgeweckt haben.

»Conrad, du Faulpelz, wo steckst du?«

Vielleicht hatte er endlich eingesehen, dass er sie nicht würde umstimmen können und hatte das Weite gesucht. Der Gedanke versetzte ihr unerklärlicherweise einen Stich.

Sie marschierte in den Schuppen und blieb dann abrupt stehen. Der Schuppen war kaum wiederzuerkennen. Wo vorher ein heilloses Durcheinander geherrscht hatte, weil Bryn schlicht und ergreifend zu faul gewesen war, für Ordnung zu sorgen, hingen nun Werkzeuge und Geräte fein säuberlich an der Wand aufgereiht, der Boden war sauber und selbst das winzige Fenster war geputzt, sodass der Schuppen heller wirkte als jemals zuvor.

Bryn konnte es kaum fassen. Er war ein Prinz und nicht nur das, er war auch noch ein Mann, er sollte überhaupt nicht in der Lage sein, Ordnung zu halten.

Sie stand noch einen Augenblick länger herum und bestaunte die Sauberkeit um sich herum, die sogar in dem spärlichen Licht, das durch das kleine Fenster fiel, unübersehbar war, bevor ihr der eigentliche Grund ihres Hierseins wieder einfiel.

Conrad hatte sein Lager in der hintersten Ecke aufgeschlagen, hinter dem Regal, in dem sie für gewöhnlich Nägel und allerhand Krimskrams aufbewahrte und das nun ebenfalls aufgeräumt und sorgsam sortiert war. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass sie noch eine Kristallkugel besaß!

Conrad lag unter zwei Decken begraben, die er sich bis zu den Ohren hochgezogen hatte, regte sich aber nicht, als sie neben ihm stehen blieb und ungeduldig mit der Stiefelspitze auf den Boden klopfte.

Er wollte sich stur stellen? Gut, das konnte er haben. Sie schob sich die Ärmel hoch, dehnte einmal kurz die Finger und murmelte dann einen Zauberspruch.

Sie konnte das schadenfrohe Kichern nicht verbergen, als sich ein eisiger Wasserschwall über ihn ergoss. Das Lachen verging ihr jedoch schnell, als ihr Streich ihm nicht mehr als ein leises Stöhnen entlockte und er sich noch immer nicht rührte.

»Conrad?«

Sie kniete neben ihm nieder und legte ihm eine Hand auf die Schulter, um ihn wachzurütteln. Selbst durch die Decken hindurch und auch nach seinem unfreiwilligen Bad konnte sie die glühende Hitze spüren, die von ihm ausging.

»Conrad!« Rasch drehte sie ihn auf den Rücken und schüttelte ihn unsanft. »Conrad, wach auf!«

Sie wischte ihm die triefnassen Haare aus dem Gesicht und fühlte seine Stirn, dann seinen Nacken.

Vielleicht hätte sie ihn nicht bei strömendem Regen ins Moor schicken sollen, um Schilfgras zu sammeln. Was am Tag zuvor noch amüsant gewesen war, wirkte nun angesichts Conrad hohem Fieber wie ein dummer, kindischer Einfall.

»Conrad, bitte wach auf.«

Sie musste ihn ins Warme schaffen. Im Haus würde sie ihn auch besser untersuchen können – nicht dass sie sonderlich viel vom Heilen verstand. Flüche und Verwünschungen aller Art waren eher ihre Spezialität. Wahrscheinlich hatte er ohnehin nur einen Schnupfen und bis zum nächsten Tag würde es ihm schon wieder besser gehen.

Nach ein paar Versuchen, Conrad zum Aufstehen zu bewegen, war sie jedoch nicht mehr ganz so überzeugt von ihrem Vorhaben. Wie um alles in der Welt sollte sie ihn aus dem Schuppen ins Haus schaffen? Er war viel zu schwer.

Schließlich rollte sie ihn auf eine der beiden Decken, die ohnehin schon bessere Tage gesehen hatte, und schleifte ihn dann unter Fluchen und Schimpfen aus dem Schuppen. Vielleicht hätte sie Großmutters fliegenden Teppich doch besser behalten. Aber das Ding war abgrundtief hässlich gewesen und darüber hinaus so eigenwillig, dass es fast unmöglich gewesen war, es zu benutzen. Jetzt musste sie sich mit Muskelkraft behelfen.

Auf halbem Weg zum Haus bereute sie es bereits, Conrad nicht einfach im Schuppen gelassen zu haben. Sie hätte ihn ja auch dort untersuchen können. Sie warf einen Blick über die Schulter zurück zum Schuppen und zerrte Conrad dann weiter zum Haus, das die Tür bereits geöffnet hatte und aufgeregt mit den Fensterläden klapperte. Es wurde einfacher, sobald sie die Türschwelle passiert hatte und sie Conrad über die Dielen schleifen konnte. Wahrscheinlich war er jetzt um einige blaue Flecken reicher, aber das konnte sie nicht ändern.

Sie zerrte ihn bis zum Bett, das hinten an der Wand stand, und sah sich dann mit dem Problem konfrontiert, Conrads reglosen Körper irgendwie in das Bett zu wuchten.

»Vielleicht sollte ich ihn einfach liegen lassen«, brummte sie missmutig. Schließlich musste sie auch irgendwo schlafen und es widerstrebte ihr, ihr Bett einfach so aufzugeben.

Die Diele, auf der sie stand, wippte ungeduldig, und der Fensterladen über dem Bett schlug mehrmals auf und zu.

»Es ist mein Bett!«, rief Bryn empört.

Der Fensterladen klapperte wütend.

»Und wo soll ich dann schlafen?«

Die Bodendielen knarrten.

»Das ist nicht dein Ernst. Es ist mein Bett. Außerdem ist es bestimmt nur ein Schnupfen.«

Die Tür zur Speisekammer schwang mit einem vorwurfsvollen Quietschen vor und zurück.

Bryn verschränkte wütend die Arme vor der Brust. »Das ist nicht meine Schuld!«

Die Tür ging auf, nur um einen Augenblick später wütend zuzuknallen.

»Es hilft ihm auch nichts, wenn du dich wie ein trotziges Kind aufführst.«

Als sie ein Glas in der Speisekammer zersplittern hörte, gab sie sich schließlich geschlagen. Unerhört, dass sie von ihrem eigenen Haus derartig schikaniert wurde!

»Wir sprechen uns noch«, drohte sie, während sie mit Ziehen und Zerren versuchte, Conrad ins Bett zu hieven.

»Zufrieden?«, zischte sie, als Conrad endlich im Bett lag, und wischte sich eine schweißnasse Haarsträhne aus dem Gesicht.

Die Fensterläden winkten selbstzufrieden.

Bryn schnaubte und ignorierte das Haus, als sie sich ein Glas Wasser einschenkte.

Conrad hatte sich während der ganzen Odyssee nicht ein einziges Mal geregt, hatte nicht einmal ein Stöhnen von sich gegeben. Bryn musste zugeben, dass sie sich allmählich ein klein wenig Sorgen machte.

Nachdem sie sich etwas gestärkt hatte, ging sie wieder zu Conrad hinüber. Sein Fieber war immer noch sehr hoch und er regte sich nicht einmal, als sie ihm unsanft auf die Wange klopfte.

Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig und auch sein Herzschlag hörte sich einigermaßen normal an. Seine Ohren waren sauber, seine Nase wirkte in Ordnung und seine Augen …

Sie prallte erschrocken zurück, als sie sein Augenlid anhob und den Ring um seine Pupille entdeckte.

Nein. Sie musste sich getäuscht haben.

Vorsichtig hob sie sein Lid wieder an und spähte ihm ins Auge, aber der purpurne Ring um die Pupille war noch immer da. Hatte er ihn vielleicht schon vorher gehabt? Vielleicht war es angeboren? Ein adeliges Merkmal?

Sie schaute ihm zur Sicherheit noch einmal ins andere Auge, wo sie ebenfalls einen purpurnen Ring entdeckte.

Die Fensterläden klapperten fragend.

»Nichts«, meine Bryn schnell. »Nur ein Schnupfen.«

Die Bodendielen knarzten argwöhnisch.

»Willst du ihn vielleicht selbst untersuchen?«, schnappte Bryn.

Die Fensterläden schlossen sich beleidigt, sodass Bryn im Dunkeln saß.

»Und nun erklär mir mal, wie es Conrad helfen soll, wenn wir hier im Dunkeln sitzen!«

Der Fensterladen über dem Bett ging einen Spaltbreit auf. Bryn warf ihm einen langen Blick zu, bis die Läden sich widerstrebend wieder öffneten.

»Danke«, meinte Bryn und machte sich dann daran, herauszufinden, was Conrad fehlte.

~*~

Purpurfieber, dachte Bryn, nachdem sie stundenlang über ihren Büchern gebrütet hatte, in der Hoffnung, noch eine andere Erklärung für Conrads Fieber und den purpurnen Ring um seine Pupille zu finden. Aber ganz offensichtlich gab es keine andere.

Bryn blickte hinüber zu Conrad, der vollkommen still in ihrem Bett lag.

Ungewöhnlich.

Sie war noch nie jemandem begegnet, der so ruhig unter dem Einfluss des Purpurfiebers geblieben war. Normalerweise bescherte es einem furchtbare Albträume und ließ einen die schlimmsten Augenblicke im Leben wieder und wieder durchleben. Deshalb war es auch in der Regel so tödlich. Wenn einen das Fieber nicht zuerst dahinraffte, dann trieben einen die Träume, die man durchlebte, in den Wahnsinn.

Aber Conrad war ein Prinz. Was wusste er schon von Abgründen und Dunkelheit? Wahrscheinlich war das Schlimmste, was er je erlebt hatte, ein drückender Schuh gewesen. Sie ignorierte die Stimme in ihrem Inneren geflissentlich, die davon flüsterte, wie oft sie sich schon in Conrad getäuscht hatte.

Sie flößte ihm etwas Wasser ein, tupfte ihm den Schweiß von der Stirn und begutachtete noch einmal seine Augen. Doch der Ring war immer noch da.

Es gab nichts mehr, was sie tun konnte.

Das Haus schien ihre Stimmung zu erahnen, denn die Fensterläden schlugen heftig auf und zu und sogar das Gebälk über ihr ächzte wie unter einem schweren Sturm.

»Und was soll ich deiner Meinung nach tun? Er hat das Purpurfieber!«

Die Haustür und die Tür zur Speisekammer flogen gleichzeitig auf, um gleich darauf wieder krachend ins Schloss zu fallen.

»Wenn du noch einen Rat hast, ich bin ganz Ohr.«

Die Haustür öffnete sich wieder und blieb dann offen stehen.

»Du willst, dass ich gehe?«, fragte Bryn ungläubig.

Die Tür wedelte ungeduldig hin und her.

Bryn sah die Tür aus schmalen Augen an. »Wo soll ich denn hingehen? Es gibt niemanden, der …«

Sie brach mitten im Satz ab, als ihr die alte Kräuterfrau einfiel, die auf der anderen Seite des Waldes wohnte.

»Oh nein«, meinte Bryn und schüttelte den Kopf. »Nein, nein und nochmals nein!«

Das Gebälk über ihr knarrte drohend.

»Sie kann mich nicht ausstehen!«

Die Tür zur Speisekammer flog zu, sodass sie die Einmachgläser klirren hören konnte, und die Bodendielen gebärdeten sich wie toll.

»Schon gut, schon gut«, lenkte Bryn ein, bevor das Haus auf die Idee kam, sie selbst nach draußen zu befördern.

Sie packte ein paar Sachen und warf einen letzten Blick auf Conrads reglose Form, bevor sie losmarschierte.

Die Tür flog ins Schloss, kaum dass sie über die Schwelle getreten war. Das Haus wirkte düster und abweisend und Bryn hatte das Gefühl, dass sie ohne die Kräuterfrau gar nicht erst wieder aufzukreuzen brauchte.

~*~

Einen halben Tagesmarsch entfernt am anderen Ende des Waldes wohnte eine Kräuterfrau, die sich auf das Heilen verstand. Sie mochte Bryn nicht sonderlich, aber unter den Gegebenheiten konnte Bryn nicht wählerisch sein. Bryn versuchte sich nicht allzu große Hoffnungen zu machen, aber Conrad war eigentlich zu still für das Purpurfieber. Vielleicht …

Die alte Frau war alles andere als begeistert, als sie Bryn erkannte, und Bryn musste ihr einen Monatsvorrat an Liebestränken versprechen und noch drei Verwünschungen obendrein, bis die Alte sich endlich erweichen ließ, ihr Haus zu verlassen und sich Conrad anzusehen.

»Er ist dein Gehilfe?«, fragte die Alte, während sie Conrad in die Augen spähte, seine Zunge herauszog, ihm die Ohren lang zog und ihm ein paar mal unsanft auf die Brust schlug.

»Das ist er«, erwiderte Bryn knapp. Die Alte musste nicht wissen, wer er wirklich war.

»Hm«, brummte sie. »Hätte schwören können, dass ich ihn schon irgendwo einmal gesehen habe. Ist er dir zugelaufen?«

»So etwas in der Art.«

Die Alte brummte wieder. »Hättest besser auf ihn achten sollen«, meinte sie schließlich. »Gegen das Purpurfieber kann ich nix machen.«

»Aber er ist so still!«, protestierte Bryn.

Die Alte schnaubte. »Hat wahrscheinlich ein glückliches Leben geführt. Oder es ist die Ruhe vor dem Sturm. Was weiß ich.«

»Aber du bist eine Heilerin!«

Die Alte hob eine dünne Braue. »Und ob er nun stöhnt und schreit oder still ist, ändert nichts daran, dass er das Purpurfieber hat. Auf den nächsten Gehilfen, solltest du besser aufpassen. Dieser hier ist hinüber.«

»Gibt es gar nichts, was wir tun können?«

»Befrei ihn von dem nassen Hemd und mach’s ihm bequem. Und dann fang schon mal an, sein Grab zu schaufeln. Gegen das Purpurfieber ist kein Kraut gewachsen, Bryndis. Das solltest selbst du wissen«, meinte die Alte, raffte ihre Röcke und schlurfte zur Tür, wo sie erwartungsvoll stehen blieb. »Meine Bezahlung«, verlangte sie, als Bryn sich nicht rührte.

Bryn kochte vor Wut. Die Alte hatte nicht einmal versucht, irgendetwas für Conrad zu tun! Aber was hatte sie auch anderes erwartet? Wenigstens hatte die Alte für die Untersuchung nicht noch eine zusätzliche Bezahlung verlangt.

Die Türen quietschten jämmerlich, nachdem die Alte gegangen war, und das Gebälk ächzte, als stünde es kurz davor zusammenzubrechen.

Bryn konnte das Gefühl sehr gut nachempfinden. So sehr ihr Conrad auch auf die Nerven gegangen war – das hatte er dann doch nicht verdient.

Sie blies einige Zeit Trübsal und lauschte auf das Jammern des Hauses, bevor sie den Rat der Alten befolgte, und sich daran machte, es Conrad so bequem wie möglich zu machen, wenn sie schon sonst nichts für ihn tun konnte.

Vielleicht …

Bryn wagte kaum zu hoffen, aber schließlich hatten auch ihre Verwünschungen nicht so recht bei ihm funktioniert und im Grunde genommen war eine Krankheit ja nicht viel anders als eine Verwünschung. Und er war obendrein ein verwöhnter Prinz, der vor den Schrecken, die ein normales Leben mit sich brachte, nicht sonderlich viel wissen konnte.

Bryn kämpfte eine Weile mit Conrads triefnassem Hemd, bevor sie schließlich kurzen Prozess machte, und es ihm einfach vom Leib schnitt. Es ärgerte sie, dass die Alte sie erst darauf hatte hinweisen müssen, Conrad aus seinen nassen Kleidern zu befreien.

Sie hatte nicht damit gerechnet, Narben auf Conrads Leib zu finden, und war umso überraschter, als sie das sternförmige Mal in seiner Schulter bemerkte und eine weitere silbrige Linie, die sich über seine Seite zog. Sie hatte keine Ahnung, wie ein verhätschelter Prinz sich so etwas zuziehen konnte. Bestimmt war er über seine eigenen Füße gestolpert.

Bryn starrte noch eine Weile auf die sternförmige Narbe in seiner Schulter, ein ungutes Gefühl in der Magengrube, und drehte Conrad dann auf die Seite, um seinen Rücken zu begutachten.

Sie sank auf die Bettkante hinab und konnte den Blick nicht von dem Geflecht aus langen wulstigen Narben nehmen, die sich kreuz und quer über seinen gesamten Rücken zogen.

Die Fensterläden quietschten jammervoll in ihren Angeln.

Bryn hatte das Gefühl, als hätte man ihr einen Eimer eiskalten Wassers über den Kopf gegossen. Die Male zeugten nicht von einem verwöhnten Leben. Sie dachte an die Schatten in seinen Augenwinkeln, an seine Panik, als sie ihn als Esel im Schuppen angebunden hatte. Wieso waren ihr die Narben nicht schon viel früher aufgefallen? Er lebte schon seit Wochen bei ihr und sie hatte ihn nackt gesehen!

Du hattest nur Augen für seinen Hintern, du dumme Gans, spottete eine Stimme in ihrem Inneren.

Bryn legte behutsam eine Hand auf seinen Rücken. Seine Haut war unnatürlich heiß und nur eine weitere Erinnerung daran, wie schlecht sie ihn behandelt hatte. Wie hatte sie sich so in ihm täuschen können? Aber vielleicht hatte sie das nicht. Vielleicht hatte sie von Anfang an gewusst, dass er nicht so war wie der Rest seiner abscheulichen Familie. Er hatte sie vom ersten Augenblick an mit nichts als Respekt und Höflichkeit behandelt und hatte seitdem jeden Tag bewiesen, dass er außer seinem Aussehen nichts mit seinen Brüdern gemein hatte. Und sie hatte die Schatten in seinen Augen gesehen. Doch sie hatte es nicht wahrhaben wollen, hatte versucht ihn fernzuhalten und sich von seinem Titel blenden lassen.

Sie wusste nicht, wie lange sie einfach so dasaß und ins Leere starrte, während eine erschütternde Erkenntnis in ihr reifte: Sie war diejenige gewesen, die ihn abscheulich behandelt hatte. Von Anfang an. Und er hatte nur gelächelt und ihr Blumen gepflückt.

Ihr Blick wanderte zurück zu den furchtbaren Naben, die sich über seinen Rücken zogen, und sie spürte, wie ihr die Kehle eng wurde, als sie daran dachte, dass sie ihn im Schuppen angebunden hatte.

Die Türen des Küchenkabinetts schwangen leise hin und her.

»Ich weiß nicht, ob wir etwas für ihn tun können«, antwortete Bryn, nahm einen tiefen Atemzug und verdrängte Verzweiflung und Schuldgefühle. Sie war eine Hexe, verdammt. Sie mochte vielleicht nichts vom Heilen verstehen, aber sie kannte sich mit Flüchen und Verwünschungen aus und was anderes als ein Fluch war das Purpurfieber? »Ich werde ihn nicht kampflos aufgeben.«

Und sie würde herausfinden, warum er sich bei ihr versteckt hatte und woher diese schrecklichen Narben kamen.

Zumindest das war sie ihm schuldig.

Die Tür zur Speisekammer quietschte fragend und die Dielen knarzten hoffnungsvoll.

Bryn lächelte schwach und sah Conrad an, der so still in ihrem Bett lag. Viel zu still. »Nein«, sagte sie leise. »Selbst wenn er überlebt, glaube ich nicht, dass wir ihn behalten können.«

Ganz gleich, wie sehr sie es sich auch wünschen mochte.

8

»So ein hübsches Gesicht. Viel zu schade für den Folterknecht.«

Finger bohrten sich in Conrads Kiefer, drehten seinen Kopf von einer Seite zur anderen, fuhren seinen Hals entlang, über seine Brust.

Conrad dachte an Iffi, an ihr ausgelassenes Lachen. Er hatte sie seit vier Jahren nicht mehr gesehen. Wie groß sie inzwischen wohl geworden war?

Dann kam der Mann mit dem Backenbart zurück. Conrad vermutete, dass er der Leitwolf war. Er blieb grinsend vor Conrad stehen, die Hände in die Hüften gestemmt. Eine Narbe lief quer über sein Gesicht vom Haaransatz über seine Stirn, den Nasenrücken bis zum Kieferansatz und teilte sein Gesicht in zwei Hälften.

»Ich mag es, wenn meine Beute sich wehrt,« murmelte er. »Du wirst ein hübsches Schoßtier abgeben, kleines Kaninchen, wenn ich dich erst einmal gebrochen habe.«

Conrad spuckte ihm ins Gesicht.

Doch der Mann warf den Kopf in den Nacken und lachte nur. »Oh ja, wir werden sehr viel Spaß haben, du und ich, kleines Kaninchen.«

Conrad zerrte an seinen Fesseln, bis ihm das Blut die Arme hinablief, und konnte doch nicht verhindern, als der Leitwolf mit einem unheiligen Glitzern in den Augen auf ihn zutrat.

Conrad fuhr mit einem Keuchen in die Höhe. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und er blickte sich gehetzt um, darauf bedacht, keinen Laut von sich zu geben, während das Lachen des Leitwolfes noch immer in seinem Ohr hallte. Conrad hatte schnell gelernt, dass es niemals gut war, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Doch als sich seine Sicht klärte und sich sein Herzschlag etwas beruhigte, erkannte er, dass er sich nicht mehr im Lager der Roten Wölfe befand. Seine Hände waren frei und ohne Fesseln und er lag in einem Bett.

Das Lazarett, erinnerte er sich. Er war entkommen und musste sich im Lazarett befinden. Ein Traum. Es war nur ein Albtraum gewesen, auch wenn es sich so wirklich angefühlt hatte, dass er noch immer meinte, den Biss der Peitsche auf seinem Rücken spüren zu können.

Hatte er seinen Befehlshabern bereits alles erzählt, was er herausgefunden hatte? Er rieb sich mit einer zitternden Hand über das Gesicht und sah sich dann nach einem Heiler um, nur um festzustellen, dass dies nicht das Feldlazarett an der Grenze war. Dies war ein Haus. Ein fremdes Haus.

Seine Hand griff wie von selbst nach einem Schwert, das nicht da war, als sein Blick auf eine Frau mit kupferfarbenem Haar und smaragdgrünen Augen fiel, die gegen den Tisch gelehnt stand, die Arme vor der Brust verschränkt, und ihn mit scharfem Blick beobachtete.

Die Hexe. Für einen Augenblick vermischten sich Traum und Wirklichkeit, sodass er nicht wusste, ob die Zeit mit der Hexe der Traum war oder seine Gefangenschaft.

Er konzentrierte sich auf das Gefühl der Decken unter seinen Händen, das Knarren des Gebälks über ihm und sah den Fensterläden zu, die wie von selbst hin und her schwangen, als würden sie ihm freundlich zuwinken.

Der Krieg war vorüber. Sie hatten gesiegt. Er war frei.

Und doch fühlte es sich an, als wäre alles gerade erst geschehen, als hätte er die Schrecken seiner Gefangenschaft von Neuem durchlebt. Es dauerte länger als sonst nach einem Albtraum, die Erinnerungen wieder zu verbannen und danach fühlte er sich schwach und leer.

Die Hexe hatte noch immer kein Wort gesagt, sondern betrachtete Conrad mit unergründlichem Blick. Was um alles in der Welt war geschehen? Hatte er sich betrunken? War das der Grund, weshalb sie ihn so seltsam ansah? Weshalb er in ihrem Haus aufgewacht war?

»Du hattest das Purpurfieber«, erklärte die Hexe schließlich, als sich das Schweigen in die Länge zog.

Conrad war sich sicher, er hatte sich verhört. »Purpurfieber?« Seine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Krächzen und ihm fiel erst jetzt auf, wie ausgedörrt seine Kehle war.

Die Hexe sah ihn immer noch an. »In der Tat.«

Conrad schwirrte der Kopf. »Aber das Fieber ist tödlich.«

Die Hexe zuckte die Achseln. »Für gewöhnlich schon.«

Conrad starrte sie ungläubig an. Sie musste noch mächtiger sein, als er gedacht hatte, wenn sie das Purpurfieber heilen konnte. Er unterdrückte ein Seufzen. Nun war er der Hexe nur noch mehr schuldig. Wahrscheinlich würde sie ihn bis in alle Ewigkeit für sich arbeiten lassen. Seltsamerweise war der Gedanke nicht ganz so schrecklich, wie er vermutet hatte. »Dann danke ich Euch, dass ihr mein Leben gerettet habt.«

Die Hexe schnaubte. »Oh, ich hatte nichts damit zu tun.«

Conrad runzelte die Stirn. »Aber wie …«

Der Blick der Hexe schien sich in seinen zu bohren. »Nun, das ist die Frage, nicht wahr? Aber wer die Roten Wölfe überlebt hat, überlebt vielleicht auch das Purpurfieber.«

Conrad musste einen Augenblick um Fassung ringen, als nur bei der bloßen Erwähnung der Wölfe, die Erinnerungen wieder hervorzubrechen drohten.

»Man erzählt sich, du wärst ein Held, derjenige der unserem Königreich zum Sieg verholfen hat«, fuhr die Hexe ungerührt fort. »Manche behaupten sogar, du hättest die Roten Wölfe eigenhändig getötet und den Sieg für uns errungen.«

»Die Leute übertreiben«, presste Conrad durch zusammengebissene Zähne hervor.

»Hm, vielleicht.« Die Hexe musterte ihn mit scharfem Blick, ohne sich von der Stelle zu rühren.

Conrad hatte keine Ahnung, was sie von ihm erwartete. Wenn sie eine Heldengeschichte hören wollte, dann würde sie lange warten müssen, denn er hatte keine zu erzählen.

»Wie es scheint, habe ich mich in dir getäuscht«, sagte die Hexe schließlich.

Conrad blinzelte.

»Deine Brüder hätten es sich bestimmt nicht nehmen lassen, mir von ihren heroischen Taten zu erzählen. Du jedoch hast den Krieg mit keiner Silbe erwähnt.«

»Es gibt nichts, dass es wert wäre, erwähnt zu werden«, sagte er und versuchte den bitteren Geschmack auf seiner Zunge zu ignorieren. Er fühlte sich leer und ausgehöhlt und konnte fühlen, wie die Erinnerungen noch immer in den Winkeln seines Geistes lauerten, als wäre er tatsächlich wieder dort gewesen.

»Und doch feiert das ganze Land dich als Helden«, wandte die Hexe ein.

Conrad schnaubte. Ein Held. Er war kein Held. Ein Held hätte Hauptmann Lias gerettet. Ein Held hätte einen Weg gefunden, zu fliehen, ohne dabei seine Seele zu verkaufen. Aber vielleicht war es das, was der Krieg mit einem machte. Er raubte einem die Seele und ließ nichts als eine leere Hülle zurück.

Conrad hatte nie zum Militär gehen wollen, doch sein Vater hatte darauf bestanden und als drittem Sohn war ihm nicht viel anders übrig geblieben. Und dann war der Krieg ausgebrochen und Conrad fand sich mitten auf dem Schlachtfeld wieder, schlief zusammengerollt in seinem Umhang auf dem Boden, zerstochen von Mücken und Flöhen.

In den Geschichtsbüchern hatte nichts von den Grauen und Entsetzen des Krieges gestanden oder von den Opfern, die er forderte, von den schrecklichen Entscheidungen, die er einem abverlangte, davon wie er einen veränderte.

Conrad bemerkte erst, dass er sich vorgebeugt und das Gesicht in den Händen vergraben hatte, als die Hexe ihn leicht an der Schulter berührte.

»Conrad?«, fragte sie mit offenkundiger Besorgnis. »Geht es dir gut?«

Er öffnete die Augen, als sie ihm eine Hand auf die Stirn legte, und begegnete direkt ihrem funkelnden Blick. Der Atem stockte ihm in der Brust und er musste die Finger in die Laken krallen, um nichts Unüberlegtes zu tun, wie ihr Haar zu berühren, als er das Mitgefühl in ihren Augen sah. Sie mochte ihn nicht, erinnerte er sich. Und sie hatte seine Familie verflucht.

Er hielt den Atem an, als ihre Finger sanft über seine Stirn und seine Schläfe fuhren.

Dann fuhr sie zurück, als hätte sie sich verbrannt. »Ich mache dir einen Kräutertrank«, sagte sie brüsk und wandte sich ab.

Conrad ließ sich wieder in die Kissen sinken und rieb sich das Gesicht. Wie es schien, hatte er dem Tod ein weiteres Mal ein Schnippchen geschlagen. Er beobachtete, wie sie mit einem Fingerschnippen Wasser im Kessel zum Kochen brachte und einen Augenblick später stieg ihm das Aroma von würzigen Kräutern in die Nase.

Sie stopfte ihm ein paar Kissen in den Rücken, damit er sich bequem aufsetzen konnte, und setzte sich zu ihm auf die Bettkante, bevor sie ihm den dampfenden Becher reichte.

»Ich dachte, Ihr seid auf Flüche, Gifte und Verwünschungen spezialisiert«, sagte Conrad und hob die Augenbraue. »Muss ich mir Sorgen machen?«

Sie sah ihn unbeeindruckt an. »Conrad. Ich habe dir seit drei Wochen meine Brühen und Tränke eingeflößt. Warum sollte ich jetzt anfangen, dich zu vergiften?«

Er blinzelte und sah, wie sie dasselbe tat und dann abrupt aufstand und im Regal an der gegenüberliegenden Wand zu kramen begann. Sie hatte sich um ihn gekümmert? Aber sie konnte ihn nicht leiden, oder doch?

»Ich habe den Fluch von deiner Familie genommen«, sagte sie unvermittelt.

Conrad fiel beinahe der Becher aus der Hand. Er starrte ihren Rücken an. »Einfach so?«

Sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu. »Nun, ich glaube, du hast mehr als genug dafür gearbeitet, oder?«

»Aber es waren nur ein paar Wochen!«

Sie hob eine Augenbraue. »Oh, du kannst gern noch länger arbeiten, wenn du unbedingt möchtest.«

Conrad öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne zu wissen, was er hätte sagen sollen. Es war das, was er gewollt hatte – die Hexe zu erweichen, damit sie den Fluch, der auf seiner Familie lag, zurücknahm. Doch nun, da er sein Ziel erreicht hatte, fühlte er sich noch leerer als vorher. Als hätte die Hexe, indem sie seine Familie befreit hatte, nun Conrad verdammt.

»Dann sollte ich Eure Gastfreundschaft nicht länger in Anspruch nehmen.« Er setzte sich auf und machte Anstalten aufzustehen, als sich alles um ihn drehte und er sich einen Augenblick später wieder flach auf dem Rücken vorfand und in das Gesicht der Hexe aufschaute, die sich über ihn gebeugt hatte.

»Ein Weilchen wirst du wohl noch mit meiner Gastfreundschaft vorliebnehmen müssen«, meinte sie trocken und es sah fast so aus, als würde sie lächeln, als sie ihm den Becher mit ihrem Kräutertrank wieder in die Hand drückte. »Vergiss nicht, du hattest das Purpurfieber.«

Conrad nahm einen Schluck von dem Gebräu und war überrascht, als es süß wie Honig seine Kehle hinabrann. Als er sie über den Rand des Bechers hinweg ansah, umspielte ein leises Lächeln ihre Mundwinkel, das jedoch sofort verschwand, als sie bemerkte, dass er sie anblickte.

»Wenn ich mich nicht irre, wart Ihr diejenige, die mich bei strömenden Regen in den Sumpf geschickt hat.«

Sie erstarrte für einen Augenblick, bevor ihre Augen schmal wurden und sich ihre Miene verfinsterte. »Dass du dir das Fieber eingefangen hast, war deine eigene Schuld.«

»Hm, aber wenn ich nicht ins Moor gegangen wäre, wäre ich vielleicht nie krank geworden.«

Conrad unterdrückte ein Lachen, als sie herausfordernd das Kinn hob. Ihre Augen blitzten.

»Du hast es überlebt, oder?«, meinte sie.

»Ohne Euer Zutun, wie Ihr selbst zugegeben habt. Ich finde, als Entschädigung kannst du mir wenigstens deinen Namen verraten.«

Conrad war sich sicher, sie noch nie derart verlegen gesehen zu haben.

Aber immerhin erfuhr er endlich ihren Namen.

9

Das Haus war still ohne Conrad. Bryn hatte die Stille immer genossen, hatte auf das vertraute Knarren der Bodendielen gelauscht und sich hin und wieder mit dem Haus unterhalten, doch seit Conrads Abreise war das Haus in brütendes Schweigen verfallen und gab nur noch einsilbige Antworten, wenn es überhaupt antwortete. Es war fast, als würde sie in einem normalen Haus wohnen.

Bryn hätte es niemals laut zugegeben, aber wenn sie ehrlich war, vermisste sie ihn auch ein ganz kleines bisschen. Nicht viel natürlich, schließlich konnte er einem gehörig auf die Nerven gehen, aber es war ausgesprochen praktisch gewesen, jemanden für die schweren Arbeiten zu haben, die rund um das Haus anfielen. Nun musste sie die Säcke mit den Alraunen wieder selbst schleppen.

Aber er hatte sich aus dem Staub gemacht, kaum dass er erfahren hatte, dass sie den Fluch gelöst hatte. Nein, sie vermisste ihn kein bisschen. Weder sein hübsches Lächeln noch die Muskeln in seinen Armen, noch sein sonniges Wesen, noch seine liebevollen Sticheleien …

Sie stand wütend auf und stapfte in die Vorratskammer, um ein wenig für Ordnung zu sorgen.

Es wollte ihr noch immer nicht so recht in den Sinn, dass ihr Conrad tatsächlich ein Kriegsheld war. Der Kriegsheld. Hätte sie die Narben nicht gesehen, hätte sie niemals geglaubt, dass er ein Soldat hätte sein können. Nun verstand sie die Schatten in seinen Augen und auch sein Widerstreben ins Moor zu gehen. Wenn die Gerüchte stimmten, war seine ganze Kompanie im Moor von den Roten Wölfen niedergemetzelt worden. Niemand wusste genau, wie Conrad überlebt hatte. Man erzählte sich, dass er sich als Spion bei den Wölfen eingeschlichen hatte, um ein halbes Jahr später mit den notwendigen Informationen aufzutauchen, um den Krieg mit dem benachbarten Königreich Rostar endgültig zu beenden. Bryn fürchtete, dass die Wahrheit weitaus düsterer war. Sie wusste selbst, wozu Menschen in der Lage waren, wenn sie wütend waren oder sich im Recht glaubten.

Sie war gerade dabei, eine Schachtel mit fertigen Fluchamuletten ins Regal zu stellen, als ihr das Klappern der Fensterläden auffiel. Als sie den Kopf aus der Speisekammer steckte, flog gerade die Tür auf, vor der niemand anderer als Conrad stand.

Er wirkte wie ein Fremder in seinen polierten Stiefeln und feinen Kleidern, aber wenigstens war er nicht mehr ganz so blass wie nach seiner Krankheit. Über seiner Nase konnte sie noch immer schwach eine rote Linie ausmachen und sie fragte sich mit einem Anflug von Schuldgefühlen, ob er vielleicht eine Narbe zurückbehalten würde. Eine weitere in seiner umfangreichen Sammlung.

Conrads Mundwinkel hoben sich zu einem warmen Lächeln, als er Bryn bemerkte, und seine blauen Augen funkelten.

»Bryn«, begrüßte er sie und verbeugte sich, als wäre sie eine Dame von Stand und nicht nur die Hexe aus dem Nebelwald.

»Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich jemals wiedersehe«, gab Bryn zurück und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Das klang ja fast so, als hätte sie ihn vermisst!

Sein Lächeln vertiefte sich. »Oh, du hast also an mich gedacht?«

Bryn verschränkte die Arme vor der Brust. »Ja, dass ich froh bin, dich endlich los zu sein.«

Sein Lächeln geriet ein wenig ins Wanken und er schien einen Augenblick darüber nachzudenken, was er sagen sollte, dann zuckte er zusammen und streckte die Hand aus, die er bisher hinter seinem Rücken gehalten hatte und streckte ihr einen Strauß Wildblumen entgegen. Er duftete angenehm nach Lavendel, Ringelblume, Melisse und noch einigen anderen Kräutern und Blumen und sie ging unwillkürlich einen Schritt auf Conrad zu, die Hand bereits nach dem Strauß ausgestreckt, bevor sie sich daran erinnerte, dass er einfach gegangen war.

»Was willst du, Conrad?«, fragte sie barsch.

Sein Lächeln verblasste und er ließ die Hand sinken. Die Bodendielen knarzten ungehalten. Bryn ignorierte sie. Sie würde sich nicht noch einmal von ihm erweichen lassen.

»Mein Vater gibt einen Ball, um zu feiern, dass der Fluch gelöst wurde … und meine Rückkehr«, erklärte Conrad.

Bryn spürte, wie sich ihre Laune noch weiter verfinsterte. »Man sollte meinen, dass dein feiner Herr Vater seine Lektion gelernt hätte,« zischte sie, während sie sich in Gedanken schon einen neuen Fluch zurechtlegte.

Conrad sah sie verständnislos an.

»Wenn er darauf gehofft hat, dass es ihm irgendetwas bringen würde, dich zu schicken, um mir auszurichten, dass ich wieder einmal nicht eingeladen bin, dann hat er sich geschnitten.« Diesmal würde sie die königliche Familie nicht so einfach davonkommen lassen.

Conrad riss die Augen auf und schüttelte hastig den Kopf. »Nein! Natürlich bist du eingeladen. Deshalb bin ich doch hier!«

Bryn, die gerade dabei gewesen war, sich die Ärmel hochzukrempeln, hielt mitten in der Bewegung inne. »Ich bin eingeladen?«

Conrad nickte.

»Bist du sicher?«

Conrad nickte wieder. »Ganz sicher.«

Bryn verschränkte wieder die Arme vor der Brust. »Ach, und da ist er sich zu fein, mir die Einladung selbst zu überbringen? Das ist ja wieder typisch. Ich hätte den Fluch niemals lösen sollen.«

Conrad blinzelte und wurde dann feuerrot. »Ich … äh, das war meine Idee. Ich bat ihn darum, dir die Einladung persönlich überbringen zu können.«

»Ach ja?« Sie beäugte ihn misstrauisch.

»Ja.« Dann zuckte Conrad wieder zusammen, kramte in seinen Taschen und holte schließlich ein versiegeltes Papier hervor, das er Bryn entgegenhielt.

Bryn blickte wortlos auf das gefaltete Schriftstück herab, auf dem das Siegel des Königs prangte. Erst als Conrad ein wenig geknickt die Hand sinken ließ und dabei wie ein geprügelter Hund wirkte, riss sie ihm den Brief aus der Hand und nahm ihm schließlich auch den Strauß Blumen ab. Sie liebte Wildblumen und in seinen Prankenhänden würde er sie ja doch nur zerquetschen.

Sie verfluchte ihr verräterisches Herz, das einen Sprung machte, als Conrads Miene sich aufhellte, und kümmerte sich hastig um die Blumen. Er hatte alle ihre Lieblingsblumen gepflückt. Woher wusste er, welche Blumen sie mochte? Sie starrte einige Herzschläge lang verwundert auf den Strauß, bevor sie sich an die Einladung des Königs erinnerte.

Sie war adressiert an die Hexe aus dem Nebelwald und Bryn fragte sich, ob der König es einfach nicht für nötig gehalten hatte, sie beim Namen zu nennen, oder ob Conrad ihren Namen für sich behalten hatte. Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu, bevor sie das Siegel brach und das Papier entfaltete.

Sie hatte noch nie so dickes Papier gesehen, noch dazu eine so elegante Schrift, in der jeder Buchstabe wie gemalt wirkte. Nicht einmal ihre Zauberbücher waren so aufwändig gestaltet. Es zahlte sich ganz offensichtlich aus, König zu sein.

»Ich … wollte dich fragen, ob du mich zu dem Ball begleiten würdest«, riss Conrad sie aus ihren Gedanken. Sie hatte fast vergessen, dass er noch da war.

Bryn sah von der Einladung auf. »Aber der Ball findet erst in einer Woche statt.«

Conrad wurde rot. »Nein, ich meinte, … als meine Begleitung für den Abend.«

»Du willst, dass ich mit dir zu dem Ball gehe?« Bryn wedelte mit der Einladung.

Conrad nickte.

»An deiner Seite?«

Conrad nickte wieder.

»Als deine Begleitung?«

Conrad wirkte zunehmend verunsichert. »Ja?« Es klang wie eine Frage.

»Und was sagt dein Vater dazu?«, meinte Bryn und verschränkte die Arme vor der Brust.

Conrad zuckte die Achseln. »Was soll er schon sagen?«

Bryn hob eine Augenbraue. »Na, beim letzten Mal wollte er mich nicht einmal dabeihaben. Und hat mich aus dem Schloss werfen lassen, nachdem dein feiner Herr Bruder mit mir getanzt hat.«

Conrads Miene verdüsterte sich, als er die Arme vor der Brust verschränkte. Es hätte ihr gleich auffallen müssen, dass er Soldat war. Er hatte Schultern wie ein Ochse. »Glaub mir, Wieland und Richard werden sich hüten, dich anzurühren.« Dann grinste er wie ein Lausbub. »Und du vergisst, ich bin ein Held. In doppelter Hinsicht.« Er zuckte mit den Achseln. »Die Zeiten ändern sich.«

Bryn dachte zurück an das erste Mal, als er vor ihrer Tür aufgetaucht war, steif und aufgeblasen wie ein Pfau, obwohl er ausgesehen hatte wie ein Landstreicher.

»Das tun sie in der Tat«, stimmte sie ihm zu.

»Also?«, fragte Conrad hoffnungsvoll.

»Also was?«, fragte Bryn.

»Wirst du mich zum Ball begleiten?«

Bryn musterte ihn schweigend. Doch ihr Haus, ungeduldig wie immer, nahm die Sache selbst in die Hand. Die Diele unter Bryns Füßen hob sich plötzlich, sodass Bryn stolperte und direkt gegen Conrad fiel, der sie behutsam auffing.

Er hielt sie im Arm und blickte auf sie hinab und da war etwas in seinem Blick, dass sie mutig werden ließ. Sie hob die Hand und fuhr über die Linie, die sich über seine Nase zog. Sie spürte, wie er den Atem anhielt, und solchermaßen ermutigt, zog sie ihn zu einem längst überfälligen Kuss herab.

Das war ihm hoffentlich Antwort genug.

ENDE