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Die Weise der Feen: Jenseits von Fengard

Eine Geschichte über Liebe, Vergebung und die Suche nach sich selbst.

Epische Fantasy mit einer queeren Liebesgeschichte

Leseprobe

Prolog

Alles war Dunkelheit.

Er war bereits so lange in der Finsternis gefangen, dass er sich nicht einmal mehr daran erinnern konnte, was Licht war. Sein Bruder war Licht gewesen, so hell wie der Morgen. Und der andere die Nacht, so dunkel wie die Schwärze um ihn. Er hatte vor langer Zeit aufgegeben, nach ihm zu rufen.

Es dauerte eine Weile, bis er merkte, dass das wütende Wispern und Flüstern, das ihn seit Äonen umgab, verstummt war. Die Stille dröhnte in seinen Ohren und sein eigenes Blut toste in ihm wie ein Orkan.

Und dann …

Und dann waren die Fesseln, die ihn so lange gehalten hatten, plötzlich fort und er fiel in endlose Dunkelheit, fiel und fiel und fiel …

 

Teil 1

Ein Volk in Finsternis

1

Berwyn ließ sich tiefer in den Grenzzauber sinken und streckte seine Sinne aus, doch er konnte keine Gefahr erkennen. Bisher hatten sich die Schatten noch nicht über die Grenze gewagt und Berwyn hoffte inständig, dass das auch so bleiben würde. Wenn alles gut lief, würde das Land in dieser Nacht von den Schatten befreit. Er konnte den Gedanken kaum fassen. Denn wenn das Land jenseits der Grenze erst einmal befreit wäre, bestünde vielleicht die Möglichkeit, die Länder wieder zu vereinen.

Der feurige Ring, der die Burg von Fengard jenseits der Grenze schützte, war in der Nacht weithin zu sehen, obwohl die Burg einen halben Tagesmarsch entfernt lag. Berwyn hoffte, dass die Feen, die die Ränge in Fengard verstärkt hatten, heil wieder zurückkehren würden.

Ein Schatten löste sich von der Burg, schraubte sich in den Himmel und schoss dann in ihre Richtung. Die Bogenschützen, die entlang der Grenze Stellung bezogen hatten, setzten augenblicklich an und auch die restlichen Krieger zogen ihre Waffen.

»Haltet!«, rief Berwyn und kam sich lächerlich vor, dass er derjenige war, der Befehle ausgab. Früher hatte es keine Herrscher in ihrem Volk gegeben. Jeder hatte eine Stimme gehabt. Aber das war lange her.

 Zu Berwyns Erleichterung entpuppte sich der Schatten als ein Greif, der in raschem Tempo näher kam. Erst, als er fast heran war, erkannte Berwyn, dass er etwas in den Klauen trug. Eine Fee. Eine Fee mit kurzem Haar. Berwyn wusste nicht, ob er erfreut sein sollte oder entsetzt. Natürlich war es Cadogan, einstiger Prinz der Feen und Dorn in Berwyns Seite, seit er mit seinem wahnsinnigen Vater beinahe die Feen in den Untergang gestürzt hatte.

Der Greif landete, kaum dass er die Grenze ins Feenland überquert hatte, und setzte auf den Hinterbeinen auf, während er seine zerbrechliche Fracht mit aller Behutsamkeit auf dem weichen Gras ablegte, das diesseits der Grenze wuchs. Berwyn war mit wenigen Schritten bei ihm. Cadogan war bewusstlos, sein Gesicht aschfahl und sein Lied … sein Lied war gebrochen und hatte Schaden genommen.

»Was ist geschehen?«, fragte er den Greifen, der unter seinem Blick zusammenzuckte. Berwyn musste sich beherrschen, um nicht einfach in den Geist des Greifen zu dringen, um die Antwort direkt herauszupflücken.

»Er hat sich ganz allein den Schatten entgegengestellt, um einen jungen Drachen zu retten«, erwiderte der Greif in krächzendem Tonfall.

Berwyn blickte ungläubig auf die Fee hinab, doch selbst im flackernden Licht der Fackeln war Cadogan mit seinem vernarbten Gesicht und den kurzgeschorenen Haaren eindeutig zu erkennen.

»Wird er überleben?«, fragte der Greif vorsichtig und riss Berwyn aus seiner Schockstarre.

»Wo ist er verletzt?«, fragte Berwyn.

»Die Schatten haben sein Bein erwischt. Und ich glaube, er hat ein wenig Drachenfeuer abbekommen. Ich weiß nicht, ob noch mehr verletzt ist.«

Berwyn folgte dem Blick des Greifen und prallte erschrocken zurück, als er Cadogans Bein sah.

»Ruft Alwyn!«, donnerte er. »Und die Windzwillinge! Sofort! Und mehr Fackeln! Annwen!« Er blickte sich zu ihr um, doch da war Annwen bereits an seiner Seite. Sie war so jung und naiv wie er alt und zynisch war und regierte mit ihm und Nirael gemeinsam über die Feen. Nun sah sie mit weit aufgerissenen Augen auf Cadogan hinab und suchte einen Moment später Berwyns Blick.

»Es wäre vielleicht gnädiger, ihn zu Mutter Erde zurückkehren zu lassen«, murmelte sie leise.

Berwyn presste die Lippen zusammen. Cadogans Anschuldigungen, dass Berwyn sich nur von seinem Hass leiten ließe, klangen ihm wieder in den Ohren. »Würdest du das auch sagen, wenn es Nirael wäre? Oder eine andere Fee?«

Annwen atmete scharf ein und wandte den Blick ab. Dann kniete sie ohne ein weiteres Wort neben Cadogan nieder und wandte sich seinem Bein zu. Berwyn hörte sie würgen, als sie Cadogans Bein von den Überresten seiner Beinkleider befreite, und auch Berwyn musste schlucken. Es sah auf den ersten Blick nicht danach aus, als wäre es noch zu retten, das Fleisch schwarz verkohlt und stellenweise bis auf den Knochen verbrannt.

Berwyn war froh, als er jemanden kommen hörte, und einen Grund hatte, um den Blick abzuwenden. Alwyn kam ihnen mit grimmiger Miene entgegen, die Aufmerksamkeit bereits auf seinen Patienten gerichtet, als er abrupt stehen blieb.

»Er? Warum sollte ich ihm helfen?«

Berwyn wäre ihm am liebsten an die Kehle gegangen. »Weil ich dich darum bitte.«

Alwyn blinzelte, sah von Berwyn zu Cadogan und zurück. »Du hast in seine Seele gesehen?«

»Ist das wichtig?«, schnappte Berwyn, zu aufgewühlt, um seine übliche Ruhe zu bewahren. »Er ist einer von uns und er wird den Morgen nicht mehr erleben, wenn wir ihm nicht helfen.«

»Einer von uns?« Alwyn schnaubte abfällig.

»Er hat offenbar mehr Ehre besessen als du, als er sein Leben für einen Drachen geopfert hat«, zischte Berwyn. Alwyn scheute sich nicht davor, ihm direkt in die Augen zu sehen. Berwyn sah nur seinen eigenen Zorn und seine Schuldgefühle widergespiegelt. Es war so leicht, Cadogan für alles die Schuld zu geben, doch waren sie wirklich weniger schuldig?

Alwyn presste die Lippen zusammen und Berwyn atmete auf, als Alwyn sich schließlich neben Annwen niederkniete.

»Wie ist das passiert?«, fragte Alwyn.

»Er hat sich allein den Schatten entgegengestellt, um einen jungen Drachen zu retten«, erklärte der Greif, der ihre Auseinandersetzung still beobachtet hatte, mit derselben Ehrfurcht in der Stimme, die er schon zuvor ausgedrückt hatte. Wahrscheinlich wurde Cadogan mit jedem Mal, da er die Geschichte erzählte, ein Stück größer. Berwyn würde Nirael, die an der Seite der Menschen in Fengard ausharrte, nach der wahren Geschichte fragen müssen.

Alwyns Kopf fuhr bei den Worten des Greifen überrascht in die Höhe. »Er hat was? Bist du sicher, dass er es war?«

Der Greif nickte eifrig. »Ihr könnt ihn doch retten, oder? Er ist ein Held!«

Alwyns Lippen wurden schmal. »Das wird sich zeigen.« Er beugte sich über Cadogan, legte ihm eine Hand auf die Stirn und eine auf die Brust, direkt über sein Herz. Berwyn hörte, wie er einen Moment später scharf die Luft einsog. Seine Augen flogen auf und er sah Berwyn direkt an. »Bist du sicher, dass es nicht gnädiger ist, ihn gehen zu lassen?«, fragte er leise.

»Würdest du das auch sagen, wenn ich es wäre?«

Alwyn setzte sich auf die Fersen zurück und fuhr sich mit einer fahrigen Geste durchs Haar. »Vielleicht«, sagte er. »Das wird übel.«

»Tu, was du tun musst.«

Alwyn zog sich die Kleider vom Leib, bis er mit nacktem Oberkörper im Gras kniete, und sah Annwen an. »Ich werde die Führung übernehmen, aber ich werde deine Unterstützung brauchen«, sagte er knapp. Annwen nickte hastig. »Wir werden unsere gesamte Kraft benötigen und selbst dann könnte es nicht reichen.« Sie nickte wieder.

»Berwyn –«

»Ich kümmere mich um sein Lebenslied«, fiel Berwyn ihm ins Wort.

Alwyn nickte nur und wies die Windzwillinge, die sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatten, an, Cadogan notfalls festzuhalten, wenn es nötig werden sollte. Er zog ein glattes Stück Holz aus der Tasche und schob es Cadogan zwischen die Zähne. Danach holte er ein Räucherbündel hervor, entzündete es mit seiner Magie und berührte damit Cadogans Stirn, seine Brust und strich über den Rest seines Körpers, bevor er es auf Cadogans Brust liegen ließ. Er tauschte einen letzten Blick mit Annwen und dann begannen sie.

Berwyn spürte, wie Fael und Tael, die Windzwillinge, den Wind befehligten und um Cadogan wanden, als der plötzlich die Augen aufriss und sich anspannte. Berwyn hätte ihm gerne die Schmerzen genommen, doch der Schaden an seinem Lebenslied, war so groß, dass Berwyn all seine Konzentration darauf verwenden musste, die Splitter wieder zusammenzufügen.

Er wusste nicht, wie lange sie arbeiteten. Berwyns Ohren klingelten von Cadogans qualvollen Schreien, von seinem zersplitterten Lied. Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht.

»Wir haben getan, was wir konnten«, sagte Alwyn schließlich. Die Erschöpfung hatte tiefe Linien in sein Gesicht gegraben. Annwen hatte sich bereits neben ihm rücklings ins Gras fallen lassen und atmete schwer. »Den Rest muss Mutter Erde tun.«

Berwyns Blick wanderte zu Cadogans Bein, das von den Zehen bis zur Hüfte mit großen Blättern umwickelt war. »Wird er wieder laufen können?«

Alwyn sah das Bein an. »Unwahrscheinlich«, knurrte er. »Er kann sich glücklich schätzen, wenn er jemals wieder aufwacht.«

~*~

»Wo ist er?«

Niraels schrille Stimme riss Berwyn aus seiner Konzentration. Sie stürmte einen Augenblick später in die kleine sonnendurchflutete Laube und blieb abrupt stehen, als ihr Blick auf Cadogan fiel, der in einer flachen Mulde ruhte, sein Körper bis zum Hals mit Erde bedeckt, und dann auf Berwyns Hand, die auf Cadogans Stirn lag.

Ihre Miene war schwer zu deuten.

»Wir haben alles getan, was wir konnten«, erklärte Berwyn leise und hoffte, dass seine Worte der Wahrheit entsprachen.

Nirael presste die Lippen aufeinander. »Ich weiß«, sagte sie schließlich. »Ich habe ihn gesehen, nachdem die Schatten ihn erwischt haben. Ich habe nicht einmal geglaubt, dass er den Flug hierher überleben würde.« Sie schloss kurz die Augen und stieß den Atem aus.

»Der Greif, der ihn herbrachte, erzählte, dass er einen Jungdrachen gerettet haben soll«, bemerkte Berwyn.

»Nicht irgendeinen Drachen«, sagte sie. Sie ging zu Cadogan, kniete neben seinem Kopf nieder und strich mit ihren Fingern sanft über die Brandnarben, die Cadogans Gesicht entstellten. »Den Drachen, der ihm diese hier beigebracht hat.«

Berwyn vergaß für einen Augenblick zu atmen. Er hatte gewusst, dass sich etwas in Cadogan verändert hatte, schon bevor der seinen eigenen Vater Cadfael, der bis vor Kurzem das Feenvolk regiert hatte, getötet hatte. Doch dies …

»Warum?«, fragte er.

Nirael sah ihn an. »Das ist die Frage, nicht wahr?«

Berwyn sah auf Cadogan herab. Er verspürte einen widerwilligen Respekt und war plötzlich froh, dass sie Cadogans Leben hatten retten können. Er wusste nicht, ob er selbst zu einer so großmütigen Tat in der Lage gewesen wäre.

»Wird er wieder gesund?«, fragte Nirael leise.

»Nein«, sagte Berwyn und versuchte gar nicht erst, die Wahrheit zu beschönigen. »Zumindest nicht vollständig. Seine Seele hat Schaden genommen. Ich konnte die Verletzungen größtenteils heilen, aber … Nun. Wir werden sehen.« Berwyn fürchtete insgeheim, dass Cadogan nie wieder in der Lage sein würde, seine Magie zu gebrauchen, doch es war noch zu früh, um irgendetwas mit Gewissheit zu sagen.

Nirael ließ den Kopf hängen. »Aber er lebt.«

»Ja.«

»Und … das Bein?«

»Wir werden sehen«, sagte er wieder.

Nirael legte ihre Hände auf die Erde, dort, wo Cadogans Brust vergraben war, und schloss die Augen. Wahrscheinlich sprach sie ein Gebet.

»Danke«, sagte sie irgendwann.

Berwyn sah sie an.

»Ich habe gehört, dass Alwyn ihn sterben lassen wollte.«

Berwyn schloss die Augen. »Alwyn ist ein Hitzkopf.«

»Trotzdem. Ich weiß … ich weiß, dass viele der anderen ihn am liebsten tot sehen würden.«

Er spürte ihren Blick.

»Ist das der Grund, weshalb du an seiner Seite wachst?«, fragte sie.

»Zum Teil«, sagte er.

»Und der andere?«

Berwyn öffnete sein rechtes Auge einen Spaltbreit und bedachte sie mit einem langen Blick. »Sicherstellen, dass sich sein Geist nicht heimlich davonstiehlt, wo ich mir solche Mühe mit ihm gegeben habe.«

2

Er wusste nicht, wie lange er fiel. Äonen. Einen Wimpernschlag lang.

Als er erwachte, war das Licht so gleißend, dass er vor Schmerz schrie und sich zusammenkrümmte. War dies eine neue Folter?

Doch nein.

Nein.

Er hörte …

Er hörte.

Nicht länger nur seinen eigenen Herzschlag und das Rauschen seines Blutes oder das Wispern der Schatten, die sich an seinen Qualen weideten. Nein.

Er hörte das Rauschen des Meeres, das Lied des Windes.

Seine eigene Stimme.

Er kniff die Augen fester zusammen. Es konnte nicht sein, es konnte nicht sein. Dies war nur ein weiteres Hirngespinst.

»Mutter …«, flüsterte er versuchsweise. Er erkannte seine eigene Stimme kaum wieder. Das Tosen des Meeres und das Wispern des Windes antworteten ihm.

Er bohrte die Finger in die Erde und unterdrückte ein Schluchzen. Er öffnete die Augen und blinzelte und blinzelte, bis sie nicht länger tränten und er sehen konnte.

Er wusste nicht, wie lange er dalag und den Anblick des Horizontes in sich aufsog. Wolken und Möwen und Meer.

Frei.

Er wagte kaum zu hoffen, und doch spürte er die Erde zwischen seinen Fingern, den Wind auf seiner Haut, schmeckte das Salz des Meeres auf der Zunge.

Frei.