Startseite » Gesang der Schatten – Leseprobe

Die Fengard Chroniken 4: Gesang der Schatten – Leseprobe

Prolog

Er wusste nicht, wie lange sie bereits geritten waren, doch er war bis auf die Haut durchnässt und der Sack, den sie ihm über den Kopf gezogen hatten, klebte mit jedem Atemzug an seinem Gesicht.
Es war erniedrigend.
Er fühlte sich schwach, nachdem er so lange von seinem Land getrennt gewesen war, und die schweren Eisen an seinen Handgelenken trugen ihr Übriges bei.
Er streckte seine Sinne aus und dann fühlte er es – selbst durch das Eisen hindurch –, das scharfe Summen der Magie und dahinter das Feenland und dessen Magie. Sein Pferd schnaubte und beschleunigte seinen Schritt, als fühlte es seine Unruhe.
Jemand hielt sein Pferd zurück und dann ging ein Ruf durch die Reihen, bevor sie gänzlich zum Stillstand kamen. Sie konnten nicht mehr als einen Steinwurf entfernt sein. Jemand band ihn vom Pferd los und er schwang sich aus dem Sattel, um der Demütigung zu entgehen, dass ein Mensch ihm vom Pferd half und spürte bereits eine Klinge an der Kehle, kaum dass seine Füße den Boden berührt hatten.
»Gib mir ruhig einen Grund, Fee«, murmelte einer der Menschenkrieger. Er klang wie derjenige mit der krummen Nase und den struppigen Haaren.
Cadogan stand stocksteif und wagte kaum zu atmen. Erst auf einen scharfen Befehl des Königs hin verschwand das Schwert, und der Sack wurde ihm vom Kopf gerissen. Er blinzelte.
Grobe Stricke wurden um seine Handgelenke geschlungen und dann um seine Fußgelenke. Sie schoben ihn bis dicht an die Grenze. Er hatte kaum Zeit aufzuatmen, als er die Eisen endlich los war, als jemand ihm einen harten Stoß in den Rücken gab und er vorwärts taumelte, direkt über die Grenze.
Die Magie durchfuhr ihn wie ein Blitz. Er hatte die Grenze nicht mehr überquert, seit die Bresche geschlossen worden war und so war er nicht im Geringsten darauf vorbereitet, wie sehr sich die Magie verändert hatte. Sie hatten die Bresche geschlossen, doch es fühlte sich an, als wäre der ganze Zauber verändert worden. Er brannte durch Cadogan, hielt ihn für einen Augenblick gefangen wie eine Motte im Spinnennetz, brannte bis auf den Grund seiner Seele, ehe die Magie ihn auf der anderen Seite der Grenze wieder ausspuckte und er schwer auf dem Boden aufschlug.
Sofort spürte er den süßen Gesang des Landes, seines Landes. Rein und unbefleckt. Selbst die Luft schmeckte klarer. Er lag noch einen Augenblick so da, dann gebrauchte er die Magie, um die Stricke um seine Hand- und Fußgelenke zu lösen. Er warf dem jungen König ein anzügliches Lächeln über die Schulter zu, als er auf die Füße kam und erstarrte dann, als er sich umwandte und sich der geballten Macht seines Volkes gegenüber sah.
Er hätte sich denken können, dass Nirael sie nun anführte, doch die Fee neben ihr … Cadogan stockte der Atem. Maral. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und fast wäre er gestolpert, doch er riss sich im letzten Moment zusammen. Sie hob den Blick, als spürte sie seine Aufmerksamkeit und wahrscheinlich tat sie das auch, obwohl ihre Augen seit Jahrhunderten blind waren. Man erzählte sich, dass sie Jahrtausende alt war und sogar die Schattenkriege selbst erlebt hatte. Für gewöhnlich lebte sie abgeschieden an der Küste und war darin vertieft, den Lauf der Welt zu beobachten. Sie war keine Seherin, doch sie besaß die Fähigkeit, Dinge wahrzunehmen, die jedem anderen verborgen blieben und hatte über ihr langes Leben gelernt, die Muster der Welt zu deuten. Man munkelte, dass sie sogar die Fähigkeit besaß, Worte der Macht auszusprechen, wenngleich Cadogan es noch nie miterlebt hatte und auch sonst niemanden kannte, der es hätte bezeugen können.
Er verbarg seine Unruhe hinter seinem arrogantesten Lächeln. »Ich danke euch, dass ihr mich zurückgeholt habt.« Es schadete nichts, ihnen ein wenig zu schmeicheln, solange er nicht wusste, was sie mit ihm vorhatten.
»Das hast du ganz allein Nirael zu verdanken«, sagte Berwyn mit einem Glitzern in den Augen, das Cadogan gar nicht gefiel. »Ich hätte dich im Kerker der Menschen verrotten lassen.« Berwyn war alt, älter als Cadogan, wahrscheinlich mindestens so alt wie Cadfael gewesen war, wenn nicht gar älter, doch sein hohes Alter war ihm wie den meisten Feen nicht anzusehen. Er hielt sich aufrecht, das silberne Haar fiel ihm offen auf die Schultern, und sein heller Blick war klar, berechnend.
Cadogan zwang sich, seinem Blick nicht auszuweichen, obwohl Berwyns Macht in genau diesem Blick lag. »Nun, dann danke ich Nirael«, sagte er mit einem Lächeln und verbeugte sich in ihre Richtung, was ihm einen Grund gab, um endlich Berwyns Blick zu entkommen.
Doch Nirael sah ihn nicht einmal an. Stattdessen hatte sie sich Maral zugewandt, um einige leise Worte mit ihr zu wechseln, die Cadogan jedoch nicht verstehen konnte.
Er erstarrte, als sich Marals blinde Augen direkt auf ihn richteten und geradewegs auf den Grund seiner Seele zu blicken schienen.
»Du hast den Weg verloren«, sagte sie sanft. Es waren dieselben Worte, die Nirael benutzt hatte, als er im Kerker gesessen hatte, doch aus Marals Mund klangen sie plötzlich unheilvoll, bedrohlich, wie ein Urteil, das sie über ihn fällte. Ein Schauer lief ihm gegen seinen Willen über den Rücken.
Sie trat vor, direkt auf ihn zu und er wich unwillkürlich einen Schritt zurück, ehe ihm auffiel, was er tat. Er spürte die Macht, die sich um sie herum regte und er zwang seine Füße an Ort und Stelle zu verharren und nicht wie ein verängstigtes Kind vor ihr davonzulaufen.
»Erst wenn du dich von dem Schatten auf deinem Herzen befreist, wird sich das Land dir wieder öffnen«, intonierte sie in einem unheilvollen Singsang.
Er riss entsetzt die Augen auf und ein Zittern durchlief ihn. Ein Fluch. Das konnte unmöglich sein. Und doch spürte er die Macht ihrer Worte, die ihn mit unnachgiebigem Griff packte, sich um ihn wand, in seine Haut sank und ihm für einen Augenblick den Atem raubte, um ihn schließlich auf die Knie zu zwingen, ehe der Fluch sich in seinem Inneren einnistete wie ein Parasit.
Er krümmte sich um den Schmerz und presste sich die Hände gegen die Brust.
»Was hast du getan?«, keuchte er.
Ihre blinden Augen blickten ihn an, durch ihn hindurch. »Findest du den Weg, findest du zurück«, murmelte sie. Dann wandte sie sich um und ging davon.
»Was hast du getan?«, schrie er ihr hinterher. Er griff nach der Magie, um sie dazu zu zwingen, ihm zu sagen, was der Fluch zu bedeuten hatte, was sie ihm angetan hatte … Doch die Magie antwortete ihm nicht. Er konnte sie spüren, spürte das Land, pulsierend, lebendig und rein, doch es gehorchte ihm nicht.
»Du verfluchte Hexe!«, brüllte er, setzte ihr nach, um sich auf sie zu stürzen, als ihn zwei Krieger bei den Armen packten und ihn zurückhielten. Er kämpfte gegen sie, doch sie waren stärker und besaßen noch ihre Magie und er hatte nichts.
Berwyn trat vor ihn, ein belustigtes Lächeln auf dem Gesicht. Natürlich weidete er sich an Cadogans Schicksal.
Nirael stand neben ihm und hatte den Blick abgewendet, als könnte sie Cadogans Anblick nicht ertragen. Vielleicht war sie auch nicht einverstanden mit dem, was geschah. Vielleicht könnte er das zu seinem Vorteil nutzen.
»Du hast noch nie verstanden, wann es besser ist einzulenken und sein Schicksal zu akzeptieren«, sagte Berwyn.
»Und wer entscheidet über dieses Schicksal? Du etwa?«, zischte Cadogan. »Du bist ein Narr, wenn du glaubst, ich würde einfach klein beigeben. Es ist noch nicht vorbei. Es ist noch lange nicht vorbei.«
Berwyn lächelte noch immer. »Leere Worte. Darin warst du schon immer gut. Ich habe genug von deinem Gejammer«, sagte er fröhlich und nickte den Kriegern zu, die Cadogan mit sich zerrten.
»Was hast du vor?«, rief Cadogan ihm über die Schulter zu, während er versuchte, es den Kriegern so schwer wie möglich zu machen.
Berwyns Lächeln jagte ihm einen Schauer über den Rücken. »Oh, du hast doch nicht etwa geglaubt, wir würden dich frei herumlaufen lassen, oder etwa doch?«

»Ich verstehe nicht, warum es nicht heilen will.«
»Meinst du, es breitet sich aus?«
»Ich hoffe nicht, sonst müssen wir am Ende das Bein abnehmen.«
Kian fuhr in die Höhe. »Nein!«
Zwei goldene Augenpaare richteten sich auf ihn und starrten ihn an, bis er sich wieder hinlegte und die Deckenbalken über sich anstarrte, während Rakhanis und Larkin die Wunde in seinem Bein begutachteten, die nach einem Monat noch immer aussah wie am ersten Tag. Kian hatte sich bereits daran gewöhnt, doch Larkin und Rakhanis schienen seine Ansicht nicht zu teilen.
Er biss die Zähne zusammen, als einer der beiden in der Wunde herumstocherte.
»Liegt es daran, dass er seine Kraft mit mir geteilt hat?«, fragte Larkin.
Kian sah auf, als Rakhanis zögerte und dann den Kopf schüttelte. »Unwahrscheinlich. Deine Kraft würde ausreichen, um jede seiner Wunden zu heilen. Nein, dies ist etwas anderes. Ein fremder Zauber.«
Kian lief ein Schauer über den Rücken.
»Ein Feenzauber?«, sprach Larkin seinen Gedanken aus.
Rakhanis zögerte wieder. »Vielleicht.«
»Ich will sie nicht in seiner Nähe haben«, sagte Larkin fest und Kian stimmte ihm zu. Es reichte aus, dass er sich gelegentlich mit ihnen treffen musste, um das neue Bündnis zu besprechen. Er traute den Feen nicht, Bündnis hin oder her.
Rakhanis gab ein Brummen von sich, das Zustimmung oder auch etwas anderes hätte sein können.
»Es muss doch etwas geben, was wir tun können«, sagte Larkin und Kian hörte den Schmerz in seiner Stimme, die Ohnmacht, dass es etwas gab, das er nicht heilen konnte.
Kian hatte genug. »Ich kann damit leben«, sagte er scharf.
Larkin erwiderte finster seinen Blick. »Das solltest du aber nicht. Wir müssen nur herausfinden, was Cadfael angestellt hat.«
»Ihr versucht das nun schon seit Wochen. Es ist mein Bein, ich kann damit leben.« Es war nur gerecht, dass er eine Wunde zurückbehielt, die nicht heilte, wenn so viele gestorben waren.
Rakhanis neigte den Kopf auf die Seite wie ein Vogel und musterte Kian. »Du willst nicht, dass es heilt.« Es war keine Frage.
Kian erstarrte für einen winzigen Augenblick, bevor er sich wieder im Griff hatte.
Larkin wirbelte herum, ein verletzter Ausdruck in seinen goldenen Augen. »Was? Warum?«
Rakhanis hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah Kian mit diesem wissenden Ausdruck in den Augen an. Er sah einfach zu viel.
»Natürlich will ich, dass das Bein heilt«, widersprach Kian und legte den nötigen Nachdruck in seine Stimme. »Allein schon deshalb, weil es eine Schwäche ist, die ich mir im Moment nicht erlauben kann. Aber wenn es das nicht tut, dann ist es eben so. Ich kann damit leben.« Dann schwang er die Beine von dem Tisch, auf dem er gelegen hatte, damit Rakhanis und Larkin seine Wunde erneut inspizieren konnten, und wandte sich ab, um sich anzuziehen.
Eine Hand auf der Schulter ließ ihn in der Bewegung innehalten.
Larkin trat um ihn herum, kniete wortlos vor ihm nieder, um die Wunde an seinem Oberschenkel neu zu verbinden. »Es ist nicht deine Schuld«, sagte er leise, den Blick auf seine Hände gerichtet, deren Berührungen so behutsam waren, dass Kian es kaum aushalten konnte.
Er blickte sich um, doch Rakhanis war nicht länger im Raum, sah auf Larkin herab, der ihn noch immer nicht ansah, und wusste nichts zu sagen.
»Ich wünschte, du würdest nicht versuchen, dich selbst zu bestrafen«, sagte Larkin und erhob sich schließlich, die Hände auf Kians Schultern, sein Blick so voller Mitgefühl, dass Kian die Augen schließen musste, weil er auch das nicht ertragen konnte.
Er drängte sich hastig an Larkin vorbei, zog sich in aller Eile an und wandte sich zum Gehen.
»Kian …«
Kian schüttelte ihn ab, als Larkin versuchte, den Arm um ihn zu legen. Sein Mitgefühl war erdrückend und Kian wollte es nicht.
»Wo willst du hin?«, rief Larkin ihm nach, als Kian aus dem Zimmer marschierte.
Kian sah sich nicht um, als er antwortete. »Ein Königreich regieren.«