Hüter der Lieder
Die Fengard Chroniken 3


Failan war schon immer anders: Zu klein, zu laut, zu übersprudelnd. Zudem hütet er ein Geheimnis, das ihn von seinen Greifenbrüdern unterscheidet. Nun, zwei um genau zu sein: Er besitzt die seltene Gabe, sein Fell abzustreifen und die nackte Haut eines Menschen anzunehmen.
Und er liebt einen Drachen.
Als er erfährt, dass die Greifen mit den Feen ein Bündnis geschlossen haben, um gegen die Drachen vorzugehen, steht er vor der schwierigsten Entscheidung seines Lebens: Verlässt er sein Volk, um den Drachen, den er liebt, zu warnen? Denn wenn er auszieht, um einen Drachen zu warnen, den Feind eines jeden Greifen, gibt es für ihn kein zurück mehr.
Epischer Fantasy-Roman mit queerer Lovestory ohne Erotik, 385 Seiten, ISBN Printausgabe: 978-3-754101-89-6
Hüter der Lieder: Leseprobe
Kapitel 1
Der Wald war voller Schatten.
Es war nicht die Art Schatten, die die Höhlen und Felsspalten bevölkerte. Nein. Diese Schatten wirkten seltsam … lebendig. Lauernd. Als wären all die Geschichten über dunkle Wesen und Gestalten lebendig geworden, um sich im Schutz der Dunkelheit zu versammeln und auf ein ahnungsloses Opfer zu warten, das sie mit sich in den Abgrund zerren konnten.
Failan kannte die Geschichten, die sich um den Schattenwald rankten. Von Greifen, die dem Rand zu nah gekommen und abgestürzt waren, von anderen, die den Wald hatten überqueren wollen und niemals mehr gesehen wurden. Es waren Spukgeschichten, mit denen man den Küken Angst einjagte, damit sie sich auf ihren ersten Flügen nicht zu weit vom Nest entfernten.
Als junger Greif hatte Failan sich manchmal in den Berghängen über dem Wald versteckt und das Meer aus Bäumen beobachtet, doch auch er hatte es nie gewagt, sich dem Wald zu nähern, geschweige denn ihn zu betreten. Selbst der Wind, der vom Schattenwald hinauf in die Berge wehte, klang dunkel und bedrohlich.
Vielleicht hätte Failan einen anderen Weg finden sollen, um seine Nachricht zu überbringen. Der Wald war verflucht, so viel war sicher.
Ewiges Zwielicht herrschte unter dem dichten Blätterdach und das Unterholz schien bevölkert von unsichtbaren Wesen, die Failan beobachteten. Die Sträucher selbst schienen von unheiligen Geistern beseelt und zerrten an Failans Kleidung, wenn er ihnen zu nah kam, zogen an seinen Haaren und zerkratzen ihm das Gesicht. Vor einigen Tagen war er in eine Gruppe von Bäumen geraten, die versucht hatten, ihn zu fressen.
Manchmal wünschte er sich, er hätte den Wald nie betreten.
Bisweilen beschlich ihn der ungute Verdacht, dass der Wald das Tor zur Unterwelt beherbergte oder vielleicht war dies auch bereits die Unterwelt. Vielleicht war Failan bereits gestorben und dies war die Strafe dafür, dass er versucht hatte, sein Volk zu verraten.
Er geriet ins Straucheln, als sich sein Fuß in einer weiteren Ranke verhedderte. Dornen kratzten über seine empfindliche Menschenhaut und Zweige zerrten an seinen Haaren, während er wild mit den Armen ruderte und versuchte, das Gleichgewicht wiederzufinden. Failan hatte keine Ahnung, wie die Menschen es ertrugen in diesem kleinen, zerbrechlichen Leib gefangen zu sein. Er vermisste seine Flügel, vermisste das Gefühl des Windes, das durch sein Gefieder streifte. Bei den Sieben Winden, aber wer hätte gedacht, dass es so schwierig sein könnte, ein Mensch zu sein? Die Zeit, die er darauf verwendet hatte, die Menschen zu studieren und sich einige Male unter sie zu mischen, war ganz offensichtlich nicht annähernd genug gewesen, um ihn auf diesen Albtraum vorzubereiten. Wie hielt Rakhanis es nur aus? Oder hatte er es am Ende gar nicht geschafft? Nein. Rakhanis war stur genug, dass ihm einige Zeit als Mensch nicht viel ausmachen würde. Wahrscheinlich ließ er sich irgendwo die Sonne auf den schuppigen Leib scheinen oder zog seine Kreise über den Himmel, während Failan sich durch das borstige Gestrüpp des verfluchten Schattenwaldes kämpfte.
Wenn nur die verfluchten Schmerzen in seinen Füßen nicht wären! Er hatte einige Male versucht, ohne Stiefel zu laufen, doch die Haut an den Fußsohlen war so dünn, dass er sie sich an ein paar spitzen Steinen aufgerissen hatte. Einige Male hatte er überlegt, sich zu verwandeln, doch mittlerweile war das Unterholz zu dicht und die Bäume standen zu eng, um die Flügel auszubreiten. Er war wirklich und wahrhaftig gefangen. Hatte Rakhanis sich so gefühlt, all die Jahre, die er in der Höhle angekettet war? Wie hatte er es ausgehalten, ohne völlig den Verstand zu verlieren?
Failan wirbelte herum, als es hinter ihm raschelte. Er starrte in die Dunkelheit und ein Paar glänzender Augen starrte zurück. Failan blieb stocksteif stehen.
Er hielt die Augen weit aufgerissen, bis sie anfingen zu brennen und erst dann erkannte er die runde Gestalt, die ein wenig wie eine Mistel aussah oder wie ein winziger Busch mit einem Paar lidloser Augen, die wie polierte Edelsteine schimmerten. Es war vor ein paar Tagen unvermittelt aufgetaucht, nachdem Failan Bekanntschaft mit den gefräßigen Bäumen gemacht und den Tag verflucht hatte, da er Rakhanis zum ersten Mal gesehen hatte. Failan wusste noch immer nicht, ob es ein böser Geist oder einfach nur ein seltsames Tier war. Ganz zu Anfang hatte er versucht, das Wesen zu verscheuchen aus Angst, dass es sich als ebenso gefräßig wie die Bäume herausstellen würde. Doch es hatte sich als unglaublich hartnäckig herausgestellt und hatte sogar versucht in Failans Haar ein Nest zu bauen, als er sich zum Schlafen niedergelegt hatte. Seitdem tauchte es immer wieder auf und begleitete ihn manchmal einige Schritte lang, bevor es wieder im Unterholz verschwand. Failan hoffte inständig, dass es keine Eier auf ihm abgelegt hatte.
»Was willst du schon wieder?«, fragte Failan müde. Der Wind heulte durch die Baumwipfel wie ein Dämon und am Rande seines Gesichtsfeldes bewegten sich die Schatten, als warteten sie nur darauf, dass Failan endlich aufgab.
Das Wesen hüpfte von dem Baumstamm herunter, auf dem es gestanden hatte, trippelte auf Failan zu und blieb dann erwartungsvoll vor ihm stehen. Es war kaum größer als eine menschliche Hand, Blätter bedeckten seinen runden Körper in allen Formen und Farben, sodass es förmlich mit dem Laub, das den Waldboden bedeckte, verschmolz. Es war ein seltsames Wesen und Failan hätte zu gern gewusst, um was es sich handelte.
Er seufzte, als das Wesen keine Anstalten machte sich zu rühren. Vielleicht war es eingeschlafen oder hatte Wurzeln geschlagen. Failan wollte schon über es hinwegsteigen und seinen Weg fortsetzen, als ihm plötzlich ein Gedanke kam. »Du weißt nicht zufällig, wo die Hüterin wohnt?«
Das Wesen blickte Failan einen Augenblick lang stumm an, drehte sich dann herum und verschwand lautlos im Gebüsch.
Failan stieß einen weiteren Seufzer aus. Was hatte er auch anderes erwartet? Der Wald schien etwas gegen ihn zu haben. Vielleicht ahnte er, dass Failan nicht hierhergehörte. Die Blätter über ihm raschelten und ein Schauer lief ihm den Rücken hinab, sodass er sich rasch wieder in Bewegung setzte. Es war ihm ein völliges Rätsel, wie jemand freiwillig hier leben konnte. Aber hausten die Drachen nicht ohnehin in Höhlen? Wahrscheinlich fühlte Rakhanis sich hier wie zu Hause.
Er stolperte, als das Wesen wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte, die dürren Arme in die Seiten gestemmt, und Failan böse anfunkelte.
Failan wich einen Schritt zurück. Er hatte keine Ahnung, was er getan hatte, um den Ärger des Männleins zu erregen, und wollte nicht herausfinden, wozu es fähig war. Doch damit schien er das Wesen nur noch mehr gegen sich aufzubringen. Die blauen Augen blitzten unheilverkündend und Failan war drauf und dran, die Flucht zu ergreifen, als das Wesen zuerst auf Failan deutete und dann hinter sich in den Wald.
Failan verschlug es für einen Augenblick die Sprache.
»Du willst, dass ich dir folge?«
Das Männlein stemmte wieder die Hände in die Seiten.
Failan wagte es nicht zu hoffen. Bisher hatte das Wesen nicht den Eindruck erweckt, als könne es Failan verstehen. »Weißt du, wo die Hüterin wohnt?«
Das Wesen verschränkte die Arme vor dem Körper und blickte Failan finster an, als zweifelte es an Failans Verstand.
»Warum hast du das denn nicht gleich gesagt!«, rief Failan entrüstet.
Statt zu antworten, machte das Wesen auf dem Absatz kehrt und marschierte davon. Diesmal beeilte sich Failan jedoch, ihm zu folgen.
Sie wanderten eine Weile schweigend durch das Unterholz. Failan grübelte bereits darüber nach, ob das Wesen ihn wohl in eine Falle lockte, als er erkannte, dass das Unterholz sich ein wenig gelichtet hatte und hier und da vereinzelte Lichtstrahlen auf den Waldboden fielen.
Er traute seinen Augen kaum, als er nach einiger Zeit tatsächlich eine der selbstgebauten Höhlen, in denen die Menschen wohnten, zwischen den Bäumen erspähte. Die Behausung war klein und wie die in den Bergdörfern aus Stein erbaut, mit winzigen Fenstern und einem spitzen Dach. Es verwunderte Failan noch immer, dass die Menschen sich einfach ihre eigenen Höhlen bauten, wo auch immer sie wollten. Vielleicht lag es auch daran, dass es im Flachland weniger Höhlen für die vielen Menschen gab.
Das Männlein blieb zurück, als Failan die Lichtung betrat.
»Kommst du nicht mit?«
Das Wesen sah Failan nur stumm an und Failan hatte keine Ahnung, ob es etwas für seine Dienste als Führer erwartete.
»Ich fürchte, ich habe nichts, um mich für deine Hilfe erkenntlich zu zeigen.«
Das Männlein schüttelte sich nur einmal, sodass sein seltsames Blattgefieder leise raschelte, und war einen Augenblick später bereits im Unterholz verschwunden.
»Hab Dank«, murmelte Failan, während er ihm nachblickte. Er fühlte sich mit einem Mal seltsam allein. Als hätte er einen Beschützer verloren.
Er zögerte noch einen Moment länger, bevor er sich schließlich einen Ruck gab und sich dem Haus näherte. Schließlich war er nicht den ganzen Weg gekommen, um nun den Schwanz einzuziehen.
Goldenes Licht begrüßte Failan, als er aus dem Schatten der Bäume hervortrat und er blieb stehen und blinzelte gegen das ungewohnte Licht. Vögel zwitscherten und es war ein seltsames Gefühl, als würde er aus einem bösen Traum erwachen, wenngleich er die unsichtbaren Blicke aus den Schatten noch immer spüren konnte. Wie konnte ein solcher Ort in all der Dunkelheit existieren? Failan sah sich mit einer Mischung aus Neugier und Wachsamkeit um, doch er konnte keinen Menschen erkennen. Das Haus stand inmitten der Lichtung, die gerade groß genug war, dass Failan sich hätte verwandeln können. Seine Schultern juckten bereits, doch er widerstand dem Drang. Es gab Wichtigeres zu tun. Failan hatte nicht viel Erfahrung mit menschlichen Behausungen und kannte nur die Häuser der Menschen, die in den Bergen lebten, doch das Haus wirkte ausgesprochen klein und dunkel, als trüge es eine unsichtbare Last. Vielleicht war es auch von den Schatten berührt worden, die den Wald bevölkerten. Die kleinen Fenster schienen Failan misstrauisch anzublicken, geradeso, als wäre das Haus lebendig. Failan hätte es nicht sonderlich gewundert. In diesem Wald schien alles möglich.
Stimmen drangen aus dem Haus, als Failan sich der Haustür näherte, er konnte jedoch keine Worte ausmachen. Einen Augenblick lang blieb er vor der verschlossenen Tür stehen, bevor er sich ein Herz fasste und mit der Faust einige Male gegen die Tür schlug, wie er es die Menschen in den Bergdörfern hatte tun sehen. Er musste sich gegen den Türrahmen lehnen, als ihn mit einem Mal eine Welle der Erschöpfung überkam. Sein Magen knurrte lautstark und erinnerte ihn schmerzlich daran, dass er seit Tagen nicht mehr als ein paar mickrige Beeren und Wurzeln gegessen hatte, nachdem sich die Jagd in Menschengestalt als äußerst schwierig herausgestellt hatte. Selbst ein Kaninchen konnte seinen menschlichen Händen entkommen und von den wenigen Beeren, die Failan gefunden hatte, schienen die meisten für seinen menschlichen Leib gänzlich ungeeignet. Vielleicht ernährten sich Menschen auch von anderen Dingen, von denen Failan nichts wusste. Allmählich hatte er es gründlich satt, ein Mensch zu sein.
Er sackte vor Erleichterung zusammen, als sich die Tür endlich öffnete und er in ein Paar goldener Augen blickte, nur um einen Augenblick später seinen Fehler zu erkennen: Die Augen gehörten nicht Rakhanis, sondern einem völlig Fremden, der Rakhanis jedoch zum Verwechseln ähnlich sah.
»Kann ich dir helfen?«, fragte der Mann mit einem freundlichen Lächeln. Er wirkte deutlich jünger als Rakhanis, seine Haut glatter, seine Augen heller und frei von den düsteren Schatten, die Rakhanis mit sich herumgetragen hatte.
Sahen sich alle Menschen so ähnlich? Wie konnten sie sich nur voneinander unterscheiden? Aber nein, Failans menschliche Gestalt sah vollkommen anders aus und nun, da er darüber nachdachte, konnte er sich nicht daran erinnern, in den Bergdörfern einen Menschen mit goldenen Augen gesehen zu haben. Ein Drache also?
Failan wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Was, wenn die Drachen Rakhanis gefunden hatten?
»Geht es dir nicht gut?«, fragte der Mann, wobei er die Stirn in Falten legte. War das ein gutes Zeichen? »Warum kommst du nicht herein und ruhst dich ein wenig aus?«
»N-nein«, stammelte Failan, bevor er sich innerlich zusammenriss. »Nein, danke. Ich fürchte, ich muss irgendwo falsch abgebogen sein. Der Wald ist aber auch zu groß. Überall Bäume. Ich werde einfach weiterziehen.«
Die Falten auf der Stirn des anderen vertieften sich, als Failan einen weiteren Schritt zurückwich und – war das Misstrauen in den goldenen Augen? Was, wenn er Failan durchschaut hatte? Vielleicht verfügten die Drachen ebenso über die Gabe, einen Greifen in Menschengestalt zu wittern, wie Na’arin.
»Vielleicht kann ich dir den Weg weisen«, bot der Mann an. »Wen suchst du denn?«
Failan machte eine wegwerfende Handbewegung, wie er es manchmal in den Dörfern gesehen hatte. »Oh, nichts weiter. Ich hörte, dass die Hüterin über den Wald wacht. Aber wahrscheinlich war das nur Hörensagen. Ich werde einfach meiner Wege ziehen. Vielen Dank.«
»Warte!«, rief der Mann, als Failan sich zum Gehen wandte. »Du bist zum richtigen Ort gekommen. Es ist nur so, dass … Die letzte Hüterin ist vor einigen Jahren gestorben. Ich bin jetzt Hüter.«
Es war, als wäre Failan in ein Luftloch geraten, als hätte er plötzlich den Wind unter den Flügeln verloren. Mairen war tot. Wie konnte das sein? Wie sollte er Rakhanis nun finden?
Fast war er versucht, den Mann zu fragen, doch was, wenn er einer von denen war, die Rakhanis einst verraten hatten? Was, wenn er Mairen umgebracht hatte, um ihren Platz einzunehmen?
Failan zwang sich zu einem Lächeln. »Ah, dann will ich dich nicht länger aufhalten. Es war nett, mit dir geplaudert zu haben, ich werde dann –« Er vergaß völlig, was er hatte sagen wollen, als die Tür hinter dem Fremden plötzlich aufgerissen wurde und ein weiterer Mann erschien, der noch größer war als der erste – und warum um alles in der Welt, musste Failan auch als Mensch so klein sein? – und ebenfalls goldene Augen besaß – Augen, die Failan überall erkannt hätte.
»Rakhanis?«, krächzte Failan überrascht.
Rakhanis marschierte mit langen Schritten auf Failan zu, packte ihn grob am Kinn und bog Failans Kopf unsanft nach hinten, sodass er Failan in die Augen blicken konnte.
Failan stieß einen spitzen Schrei aus und klammerte sich an Rakhanis’ Arm, als der Drache Failans Kopf von einer Seite zur anderen drehte und Failan dabei eindringlich musterte.
»Failan?«, grollte der Drache schließlich, sein Blick noch immer voller Misstrauen. »Seit wann kannst du dich in einen Menschen verwandeln? Und was zur Endlosen Finsternis hast du hier zu suchen?«
»Dich«, brachte Failan undeutlich hervor, da Rakhanis seinen Kiefer noch immer festhielt.
Rakhanis’ Augen wurden schmal und seine Finger bohrten sich unsanft in Failans Wangen. »Warum?«
»Um dich zu warnen!«
Rauch stieg Rakhanis aus der Nase und seine Augen glühten förmlich. »Wovor?«
»Die Feen wollen Krieg!«
Rakhanis stieß einen Fluch aus und ließ Failan abrupt los.
Failan taumelte rücklings und blinzelte gegen die schwarzen Schlieren, die plötzlich vor seinen Augen tanzten. Er war so erschöpft, dass er kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Aber er hatte seine Warnung überbracht, nicht wahr? Er hatte sein Ziel wider Erwarten erreicht.
Er gab ein überraschtes Krächzen von sich, als die Welt sich plötzlich um ihn drehte und er sich einen Augenblick später in Rakhanis’ Armen wiederfand. Er schluckte gegen die plötzliche Übelkeit und lehnte den Kopf gegen Rakhanis’ Schulter.
»Du verdammter Narr«, zischte Rakhanis, »hattest du vor, dich zu Tode zu hungern?«
»Wie hätte ich denn ahnen können, dass es so schwierig werden würde, in menschlicher Form zu jagen? Oder dass die Beeren in diesem Wald nicht essbar sind.« Failan hatte nie viel Zeit als Mensch verbracht, nur ein paar gestohlene Momente hier und da, um Kleidung zu stehlen oder die Menschen, die in den Bergen lebten, bei ihrer täglichen Arbeit zu beobachten.
Der Arm, der um seinen Rücken lag, zog Failan enger gegen Rakhanis’ Brust. Failan konnte es regelrecht spüren, als Rakhanis ein tiefes Grollen von sich gab.
»Was für Beeren?«
»Kleine rote. Ich habe sie gefunden, nachdem die Bäume mich beinahe gefressen hätten. Wenn du mich fragst, hat dieser Wald den Namen Schattenwald mehr als verdient. Wie hältst du es hier nur aus?«
Rakhanis grollte wieder. Oder vielleicht hatte er auch einfach nicht aufgehört. Failan war zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen.
Ein Seufzen entschlüpfte ihm, als Rakhanis ihn auf etwas Weiches bettete. Es fühlte sich so gut an, dass Failan gegen seinen Willen die Augen zufielen. Es wäre so gut, sich für eine Weile auszuruhen. Jeder Muskel in seinem Leib schmerzte von dem endlosen Marsch und den ungewohnten Bewegungen, zu denen ihn sein menschlicher Leib zwang.
»Was hat es mit den Feen auf sich?«, fragte Rakhanis. Die Ungeduld in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Failan blinzelte und blickte mit verschwommenem Blick zu Rakhanis, der zu seinen Füßen saß und dabei war, Failan die Stiefel von den schmerzenden Füßen zu ziehen.
»Die Feen haben sich mit meinem Volk verbündet.« Er musste ein erleichtertes Stöhnen unterdrücken, als sein rechter Fuß endlich befreit war. Rakhanis gab ein scharfes Zischen von sich, das Failan überrascht aufblicken ließ. Sein bloßer Fuß lag auf Rakhanis’ Knie und sah noch schlimmer aus als beim letzten Mal, als Failan die Stiefel ausgezogen hatte. Bei all dem Blut war es kaum verwunderlich, dass er solche Schmerzen hatte.
Rakhanis warf Failan einen finsteren Blick zu – und was konnte Failan dafür, dass menschliche Füße offenbar nicht zum Laufen gemacht waren? –, bevor er ihm auch den anderen Stiefel vom Fuß zog.
Rakhanis grollte schon wieder, tief und drohend, sodass Failan die Haare zu Berge standen und er am liebsten so weit wie möglich geflüchtet wäre. Failan wollte gar nicht wissen, wie der andere Fuß aussah. Bei den Sieben Winden, aber es brannte wie Drachenfeuer. Er schnappte erschrocken nach Luft, als etwas Kühles über seine Fußsohle floss und das Brennen nur verschlimmerte.
»Was tust du da?«, zischte er ungehalten.
»Wonach sieht es aus, Federvieh?«, gab Rakhanis ungehalten zurück. Failan konnte dem lodernden Blick des Drachen nicht lange standhalten und wandte den Blick zur Wand, die Zähne zusammengebissen, während Rakhanis seine Wunden reinigte.
Es war die reinste Folter. Wahrscheinlich genoss Rakhanis es, Vergeltung für endlose Jahre der Qualen in den Höhlen der Greifen zu üben.
Aus dem Augenwinkel beobachtete Failan, wie der Drache eine würzig riechende Salbe auf den offenen Wunden verteilte, um sie dann mit geschickten Fingern zu verbinden. Seine Berührungen waren erstaunlich behutsam, auch wenn der finstere Ausdruck auf seinem Gesicht deutlich machte, wie sehr er es verabscheute, einem Greifen zu helfen. Failan hatte keine Ahnung, weshalb er es überhaupt tat.
»Es tut mir leid, dass du deine Mairen nicht gefunden hast«, sagte Failan leise, während Rakhanis den Verband an seinem rechten Fuß festknotete.
Rakhanis erstarrte und senkte den Kopf. »Es war eine lange Zeit«, sagte er, bevor er sich sichtlich schüttelte, Failans Füße behutsam auf dem Bett ablegte und sich dann erhob.
Der andere Mann, der Rakhanis so ähnlich sah, reichte Rakhanis eine Schale mit einem seltsam riechenden Inhalt, die Rakhanis mit einem leisen Dank entgegen nahm. Der andere Mann nickte nur und zog sich wieder zurück, während Rakhanis an das Bett trat, auf dem Failan lag, und auf ihn herabsah.
»Du musst etwas essen«, knurrte er und hielt Failan die Schale hin. »Keine Sorge, es wird dich nicht umbringen«, schnappte Rakhanis, als Failan nicht schnell genug nach der Schale griff.
Es schmeckte … ungewöhnlich. Anders als alles, was Failan bisher in seinem Leben gegessen hatte. Der Geruch erinnerte ihn ein wenig an die Wirtshäuser in den Bergen, in die er sich hin und wieder gewagt hatte, während er auf seinen Streifzügen war. Aber Failan war nie mutig genug gewesen, dort etwas zu essen. Er hätte ohnehin nichts gehabt, was er dagegen hätte eintauschen können.
»Was genau ist geschehen, Greif? Was haben die Feen vor?«
Failan schluckte den Bissen hinunter, den er im Mund hatte, und sah zu Rakhanis auf, der wie ein Rachedämon neben dem Bett aufragte. Plötzlich wünschte er sich, er wäre nicht so überstürzt aufgebrochen. Vielleicht hätte er dann noch etwas mehr darüber herausfinden können, was genau die Feen vorhatten.
»Ich weiß nur, dass die Feen Fengard zurückerobern wollen. Sie wollen einen Krieg.«
»Was sonst?«, knurrte Rakhanis.
Failan schüttelte den Kopf. »Ich … ich weiß es nicht, es tut mir leid. Cadfael … der Feenkönig, er hatte eine Flasche mit einer roten Flüssigkeit, wie Blut. Es schien wichtig, ich konnte es fühlen. Und Fahal …« Es fiel ihm zunehmend schwerer, die Augen offen zu halten. Es war so lange her, dass er Gelegenheit gehabt hatte, sich auszuruhen. Und nun, da sein Bauch gefüllt war und seine Füße nicht mehr so schmerzten. Er riss die Augen auf, als ihm die Schale mit Essen aus der Hand genommen wurde, und blickte verwirrt um sich. Doch es war nur Rakhanis, der mit undurchdringlicher Miene auf ihn herabsah.
»Ruh dich aus, Failan.«
Failan schüttelte den Kopf und setzte sich auf. »Aber die Feen …«
Rakhanis drückte ihn mit einer Hand auf der Schulter zurück in die Kissen. »Du kannst kaum einen klaren Gedanken fassen. Ruh dich aus. Dann reden wir weiter.«
Es klang vernünftig und Failan ertappte sich dabei, wie er zustimmend nickte, während ihm bereits wieder die Augen zufielen.
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