Startseite » HÜTER DER SCHATTEN: Die Fengard Chroniken 1 – Leseprobe

Gefürchtet von den Menschen in seinem Dorf und vergessen vom Rest des Königreiches lebt der junge Hexer Larkin zurückgezogen im Schattenwald. Sein Leben nimmt jedoch eine überraschende Wende, als er eines Nachts den schwer verletzten Krieger Kian findet und diesem das Leben rettet. Denn Kian ist weitaus mehr, als er vorgibt zu sein, und er weckt Gefühle in Larkin, die sie beide den Kopf kosten könnten. Als dann auch noch die Feen auf den Plan treten, werden Larkin und Kian in einen Kampf verwickelt, bei dem nicht nur ihr eigenes Leben, sondern das Schicksal des gesamten Königreiches auf dem Spiel steht…

LESEPROBE

1

Wütend schlug Larkin die Tür hinter sich zu und ließ sich mit dem Rücken gegen das vernarbte Holz sinken.

Diese verfluchten Dörfler. Warum bekamen sie es nicht in ihre Dickschädel, dass Larkin ihnen nur helfen wollte?

Mit grimmiger Miene starrte er in die Dunkelheit, während er mühsam um Beherrschung rang, seine Magie ein wildes Tier in seinem Inneren, das nur darauf wartete freigelassen zu werden. Wenn sie nur wüssten, ha!

Der Kerzenleuchter auf dem Tisch entflammte mit einem Mal und tauchte die Stube in ein helles Licht, bevor die Flammen wieder in sich zusammenfielen und erloschen.

Larkin erstarrte.

Bei der Seele des Waldes, etwas Derartiges war schon seit Jahren nicht mehr vorgekommen, nicht seit Jerrick … Er schüttelte den Kopf, wie um die ungebetenen Gedanken zu verscheuchen. Daran wollte er beim besten Willen nicht denken.

Er nahm einen tiefen Atemzug, um seines Ärgers wieder Herr zu werden.

Seele des Waldes, aber er musste immerzu an die Räucherschale mit Beifuß in Tildas Heim denken. Die Schalen waren an und für sich ein alltäglicher Anblick in den Dörfern am Rande des Schattenwaldes – wenngleich ein leibhaftiger Schatten sich kaum von ein wenig Beifuß beeindrucken lassen würde –, aber Tilda hatte die Kräuter in der Schale erst entzündet, nachdem Larkin das Haus betreten hatte, und ihn während seines sehr kurzen Besuches die ganze Zeit argwöhnisch beäugt, als erwartete sie, dass er sich jeden Moment in einen leibhaftigen Schatten verwandeln würde.

Mit einem tiefen Seufzen stieß er sich von der Tür ab, entledigte sich des schweren Mantels und der Stiefel, bevor er den Leuchter erneut entzündete und in die Stube trat.

Fast wünschte er sich, Tildas Kräuter wären das Schlimmste gewesen, aber an den Argwohn der alten Vettel hatte er sich beinahe schon gewöhnt.

Nachdem er alle Besorgungen und Hausbesuche im Dorf hinter sich gebracht hatte, hatte er noch kurz nach dem alten Sven gesehen, der am Rande des Dorfes allein in seiner kleinen Hütte wohnte.

Neuer Ärger regte sich bei dem Gedanken und seine Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten.

Einen Tag später – einen einzigen Tag! – und Larkin hätte nichts mehr für den Alten tun können. Und niemand hatte es für nötig gehalten, Larkin zu Hilfe zu rufen! Es war zum Aus-der-Haut-Fahren. Dabei war die Wunde an Svens Bein so unbedeutend gewesen, dass es gar nicht erst so weit hätte kommen müssen, wenn der alte Sven gleich zu Beginn zu Larkin gekommen wäre.

Larkin machte seinem Unmut mit einem Tritt gegen den Hocker Luft und fluchte im nächsten Moment, als er sich dabei den Zeh stieß.

Verfluchte Dickköpfe, allesamt! Dabei kannten sie ihn von Kindesbeinen an!

Er humpelte zu seinem Sessel, der vor dem Kamin stand, ließ sich mit einem Stöhnen hineinfallen und rieb sich den schmerzenden Zeh.

Fünf Jahre war es nun schon her, dass seine Mutter sich in den Tanz der Geister eingereiht hatte, und noch immer hatten diese Sturköpfe ihn nicht als den neuen Hexer akzeptiert. Ganz im Gegenteil, je mehr Zeit verstrich, desto argwöhnischer schienen sie zu werden, als erwarteten sie jeden Tag, dass er sich in einen Schatten verwandelte, nun da seine Mutter nicht mehr da war, um seine Magie zu leiten. Ha! Als wäre Magie ein Vorrecht der Frauen und ein Hexer eine Missgeburt, ein Kind der Schatten, das mit den Feen im Bunde war. Diese schattenverfluchten Narren!

Sämtliche Kerzen in der Hütte loderten urplötzlich auf, eine Stichflamme schoss im Kamin empor, die das übriggebliebene, halbverkohlte Holzscheit, das noch darin lag, in ein Häufchen Asche verwandelte, und draußen grollte ein einzelner Donnerschlag.

Larkin blinzelte gegen die plötzliche Helligkeit und atmete langsam aus.

Zweimal innerhalb von wenigen Minuten. Seine Mutter würde ihm das Fell über die Ohren ziehen, wenn sie noch am Leben wäre.

Mit einem Fingerschnippen löschte er alle Kerzen bis auf die, die auf dem Tisch standen, und ärgerte sich über seine mangelnde Beherrschung, den dreimal verfluchten Hocker, der ihm einen schmerzenden Zeh eingebracht hatte, und über die Dummheit der Menschen im Allgemeinen.

Müde schloss er die Augen und lehnte sich in den weichen Polstern zurück. Er hatte es so satt. Die ewigen argwöhnischen Blicke, die Beleidigungen, die die Kinder ihm hinterherriefen, weil sie es nicht besser wussten, die Beifuß-Büschel, die dieser Tage überall im Dorf herumhingen, und vor allem den Umstand, dass sie immer erst dann zu ihm kamen, wenn es schon fast zu spät war.

Vielleicht sollte er einfach dem Drängen der Müllersfrau nachgeben und ihre Tochter zur Frau nehmen, vielleicht würden sie dann endlich sehen, dass er genauso aus Fleisch und Blut war, wie sie auch, vielleicht wäre das genügend weiblicher Einfluss in seinem Leben, um sie zu besänftigen.

Vielleicht aber, dachte er bitter, würde sich auch gar nichts ändern und sie würden ihn noch immer meiden und dann wäre er mit einer Frau geschlagen, die einen Ochsen nicht von einem Esel unterscheiden konnte, sich aber über alles und jeden das Maul zerriss.

Wenn er nur daran dachte, bekam er schon eine Magenverstimmung.

Nein. Er würde einfach weitermachen wie bisher und hoffen, dass sie ihre Dummheit irgendwann einsahen und ihn akzeptierten und in der Zwischenzeit niemand zu Schaden kam.

Und bis dahin hatte es keinen Sinn, sich noch weiter den Kopf über die Dummheit der Menschen zu zerbrechen. Schließlich hatte er Besseres zu tun.

Wie seinen Vorrat an Fimbelwurzeln aufzufüllen.

Mit einem Stöhnen ließ er den Kopf in die Hände sinken. Ausgerechnet heute. Nachdem er Zauber um Zauber gewirkt hatte, um das Bein des Alten zu retten. Einen Augenblick erwog Larkin ernsthaft den Gedanken, noch einen Tag zu warten, um die Fimbeln zu ernten.

»Der Mond wartete nicht auf dich, du Narr«, ermahnte er sich leise.

Es musste in dieser Nacht sein. Der Mond war voll, die beste Zeit, um die knorrigen Wurzeln zu ernten, und eine weitere Nacht wie diese würde es vor dem Einsetzen der Winterstürme gewiss nicht mehr geben.

Mürrisch schälte er sich aus den gemütlichen Polstern und erhob sich. Besser, er machte sich gleich auf den Weg.

 

~*~

 

Larkin stöhnte, als er sich aus seiner gebückten Haltung aufrichtete, und rieb sich den schmerzenden Rücken. Stunden hatte er damit zugebracht die knorrigen Fimbelwurzeln im schwachen Licht des Mondes aus der Erde zu graben und war übersät mit tiefen Kratzern des dornigen Gestrüpps. Die Nachtfimbeln waren in dieser Nacht ganz besonders angriffslustig, als ahnten sie Larkins düstere Stimmung und wollten noch ihren Teil dazu beitragen. Ein besonders vorwitziges Exemplar hatte es sogar geschafft, seine Dornen über Larkins Wange zu ziehen, bevor er es hatte abschütteln können.

Verfluchte Biester.

Wenigstens hatte er im Gegenzug einen vollen Sack Wurzeln geerntet, die ihm bis weit in den Frühling hinein reichen würden, vielleicht sogar bis zum Sommer. Kaum zu glauben, bei dem Glück, das er den übrigen Tag gehabt hatte.

Er streckte dem kratzbürstigen Unkraut die Zunge heraus, als er endlich außer Reichweite der Dornen war, und trat erleichtert den Heimweg zu seiner kleinen Hütte an. Er konnte es kaum erwarten nach diesem Tag endlich in sein warmes Bett zu kriechen.

Ein seltsames Geräusch, das fast wie das Wiehern eines Pferdes klang, durchdrang die nächtliche Stille des Waldes und ließ Larkin abrupt innehalten. Instinktiv öffnete er seine Sinne und horchte auf das Summen der acht Bannkreise, die die Schatten seit Jahrhunderten im Wald gefangen hielten. Zwar waren die dunklen Wesen, soweit Larkin wusste, in all den Generationen, da die Hüter nun über ihr Gefängnis wachten, noch nicht ein einziges Mal entkommen, aber er wollte kein Risiko eingehen. Es war einer dieser Tage, an denen sich die ganze Welt gegen Larkin verschworen zu haben schien. Wäre es da nicht der Gipfel der Ironie, wenn ausgerechnet ihm, dem einzigen männlichen Hüter, den es je gegeben hatte, die Schatten entkommen würden?

Vielleicht sollte er noch einen weiteren Bannkreis hinzufügen, nur um sicher zu gehen. Schließlich hing das Schicksal des gesamten Königreiches, wahrscheinlich das der gesamten Welt davon ab, dass die Schatten sicher verwahrt blieben.

Das Wiehern erklang erneut und riss Larkin aus seinen düsteren Gedanken. Kein Schatten also, denn das Lied der Bannkreise war noch immer stark und ungebrochen. Rasch machte er sich auf die Suche nach dem Urheber des ungewöhnlichen Geräusches. Außer den Leuten aus den Dörfern in der Nähe des Schattenwaldes verirrte sich sonst niemals jemand in den Wald, glaubten sie doch alle, der Wald sei verflucht. Womit sie wahrscheinlich nicht ganz Unrecht hatten, bedachte man die Dunkelheit der Schatten, die über die Jahrhunderte hinweg den einstmals grünen Wald durchdrungen und verdorben hatte. Selbst Tiere gab es kaum noch und ganz sicher keine Pferde.

Dennoch war es genau das, was er versteckt hinter einer Buche und einem Winterbeerenstrauch vorfand.

Das Pferd war weitaus größer als die Ackergäule, die man vereinzelt auf den wohlhabenderen Höfen antraf – ein wahres Schlachtross, das allerdings selbst im schwachen Licht des Mondes einen geradezu jämmerlichen Anblick bot. Mit hängendem Kopf und bebenden Flanken stand das Tier im Schatten der Buche und drängte sich eng an den dornigen Winterbeerenstrauch. Larkin konnte im fahlen Mondlicht einen Sattel auf seinem Rücken ausmachen, der zugehörige Reiter jedoch war nirgends zu sehen.

Larkin beschlich ein ungutes Gefühl. Das Pferd hätte sich nie allein in den Wald gewagt, Tiere wussten es besser.

Mit einem Summen beschwor er eine kleine Flamme herauf, die ein paar Fingerbreit über seiner offenen Handfläche schwebte und mit ein wenig gutem Zureden groß genug wurde, dass sie den Waldboden beleuchtete.

Das Pferd scheute und gab ein schrilles Wiehern von sich, als das Feuer plötzlich aufflackerte, bewegte sich jedoch nicht von dem Winterbeerenstrauch weg. Es schnaubte und scharrte mit dem Huf, als wollte es Larkin herausfordern, und als er die Hand nach dem Tier ausstreckte, schnappte es nach ihm, sodass Larkin seine Hand nur mit knapper Not vor den kräftigen Kiefern retten konnte.

»Ruhig, ich will dir nur helfen«, murmelte er und begann eine leise Melodie zu summen, um das verängstigte Tier zu besänftigen.

Er rieb dem Pferd beruhigend über die Nase, als es ihm endlich erlaubte, es zu berühren, und schob es mit sanftem Druck von dem Strauch weg, vor dem es Wache gehalten hatte.

Larkin sog scharf die Luft ein bei dem Anblick, der sich ihm bot.

Der Reiter musste vom Rücken des Pferdes gerutscht sein und war direkt in dem Winterbeerenstrauch gelandet, der ihn vor Larkins Blicken verborgen hatte. Von der Kettenrüstung, die seinen Körper bedeckte, waren nur noch Fetzen übrig, den Wappenrock darüber hatte ein ähnliches Schicksal ereilt und dieser war noch dazu blutgetränkt, sodass das Wappen nicht mehr erkennbar war. Larkin fragte sich mit Schaudern, welches Ungeheuer in der Lage war, einen Kettenpanzer derart leicht zu durchtrennen. War er den Geschöpfen des Waldes zum Opfer gefallen?

Der Mann regte sich nicht, als Larkin neben ihm niederkniete. Der kupferne Geruch von Blut hing schwer in der Luft und ließ ihn das Schlimmste befürchten.

»Seele des Waldes, was ist dir nur widerfahren, mein Freund?«, flüsterte er, als er dem Mann behutsam die Hand auf die Stirn legte. Mit einem Summen rief er seine Magie und atmete erleichtert auf, als er mit seinem magischen Sinn ganz schwach das ersterbende Lebenslied des Mannes vernehmen konnte.

Es war noch nicht zu spät.

Ohne einen weiteren Augenblick zu verschwenden, begann Larkin zu singen und ließ seine Kraft in den sterbenden Mann fließen. Erst, als er sich sicher war, dass der Fremde den kurzen Weg bis zu Larkins Hütte überstehen würde, ließ er seine Magie verklingen.

Bei Licht betrachtet wirkten die Verletzungen noch besorgniserregender und Larkin beeilte sich, Tränke und Salben zu bereiten, bevor er sich wieder an der Seite des Fremden niederkniete und mit geübten Fingern dessen Wunden versorgte, während er erneut seine Zauber sang.

Der Mann hatte ausgesprochenes Glück gehabt, dass sein Pferd sich in den Schattenwald verirrt und dessen Magie ihn in die Nähe von Larkins Hütte geführt hatte. Wäre er in einem der Dörfer gelandet, hätte ihm niemand mehr helfen können.

Der Morgen graute bereits, als Larkin sich endlich steifbeinig von der Seite des Fremden erhob. Es würde eine ganze Weile dauern, bis sich der Mann erholen würde, aber Larkin war guter Dinge, dass bis auf ein paar Narben alles verheilen würde.

Er hoffte nur, dass der Fremde nichts dagegen hatte, seinen Winter in der Gesellschaft eines Hexers zu verbringen.

 

~*~

 

Das Erste, dessen Kian sich bewusst wurde, war die Stimme.

Es war dieselbe Stimme, die ihn bereits in seinen Träumen verfolgt hatte, warm und dunkel, wie eine laue Sommernacht. Die Stimme, die ihn daran gehindert hatte, den letzten Schritt über die Schwelle zu machen, um die Welt zwischen den Welten zu betreten.

Blinzelnd öffnete er die Augen und runzelte die Stirn, als er sich in einem fremden Bett wiederfand. Dicke Decken hüllten ihn ein, die an manchen Stellen etwas abgewetzt wirkten, jedoch ihren Zweck erfüllten und ihn warmhielten. Einen Moment lag er einfach nur da und beobachtete das Spiel der flackernden Schatten über ihm im Gebälk, während er versuchte, sich daran zu erinnern, was geschehen war.

Er erinnerte sich an die Schreckensschreie seiner Männer, das Kreischen der Greifen und die entsetzlichen Schmerzen, als die Krallen durch seinen Panzer fuhren, das Brechen von Knochen und über allem der kupferne Geruch von Blut.

Er hätte gar nicht mehr am Leben sein dürfen. Wie also war er in dieses Bett gekommen? Viel wichtiger jedoch – wieso war er noch am Leben?

Seine Glieder fühlten sich taub an, als gehörten sie gar nicht zu ihm, und er konnte kaum einen Finger rühren, geschweige denn den Kopf heben. Für einen Augenblick bekam er es mit der Angst zu tun. Was, wenn sein Zustand von Dauer war, wenn die Heiler ihm nicht helfen konnten – sofern es überhaupt einen Heiler in der Nähe gab?

Er verdrängte die düsteren Gedanken rasch, bevor sie ihm den Mut rauben konnten, und ließ seinen Blick stattdessen umherschweifen, über endlose Regalreihen vollgestopft mit Töpfen, Tiegeln und Kräutern, bis er den anderen Mann bemerkte, der ihn schweigend betrachtete.

Der Fremde trug ein grobes Leinenhemd, wie es für das einfache Volk üblich war, und hatte kurzes, braunes Haar, das noch nie einen Kamm gesehen zu haben schien und mehr an ein Vogelnest erinnerte. Das ungewöhnlichste an ihm waren jedoch seine Augen.

Zuerst glaubte Kian, es wäre das flackernde Kerzenlicht, das seinen eigenen Augen einen Streich spielte, doch dann erkannte er, dass die Augen des Fremden in der Tat die Farbe von purem Gold hatten, in dem sich das Licht der Kerzen zu brechen schien.

Es war ein beinahe unheimlicher Anblick.

»Wer … seid Ihr?«, brachte Kian mühevoll hervor. Seine Kehle war wie ausgedörrt und jedes Wort schmerzte in seinem Hals.

Der Fremde blinzelte und wich Kians Blick aus.

Erst jetzt ging Kian auf, dass der Gesang verstummt war und er fragte sich, ob wohl der Fremde der Besitzer der dunklen Stimme war. Hatte Kian es ihm zu verdanken, dass er noch am Leben war?

»Mein Name ist Larkin«, murmelte der Fremde, ohne jedoch Kians Blick zu begegnen. »Ich fand Euch verletzt im Wald und brachte Euch hierher, um Eure Wunden zu versorgen. Dies ist mein Heim.« Ein Hauch von Röte kroch über seine Wangen und verlieh ihm ein geradezu jungenhaftes Aussehen. Er konnte kaum älter als Kian selbst sein, vielleicht sogar ein wenig jünger.

»Meine … Männer?«, stieß Kian mühsam hervor.

Larkin runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, die Augen sorgsam abgewandt, als schäme er sich für seine ungewöhnliche Augenfarbe. »Ihr wart allein, als ich Euch fand.«

Kian biss die Zähne zusammen. Also hatte es keiner von den anderen geschafft. Lias, Gerrit, Nevin … Schatten und Verdammnis, wie sollte er Nevins Mutter erklären, dass ihr Sohn nicht mehr nach Hause kommen würde?

Kian sah auf, als er hörte, wie sich der andere Mann näherte. Larkins Schritte stockten kurz, als er Kians Blick begegnete, und er sah rasch zur Seite, ehe er sich vor dem Bett auf die Knie sinken ließ.

Er schien ungewöhnlich scheu für jemanden, der ein wahrer Meisterheiler sein musste, wenn er Kians Leben hatte retten können.

»Hier«, sagte Larkin leise und schob Kian einen Arm unter die Schultern, bevor er ihm einen Becher an die Lippen setzte. »Dies wird Euch helfen, wieder zu Kräften zu kommen.«

Der Trank schmeckte unerwartet süß – ganz und gar nicht wie die grässlichen Tränke, die die Heiler bei Hofe für gewöhnlich brauten – und rann wie Balsam Kians trockene Kehle herab.

Kian biss die Zähne zusammen, als Larkin ihm langsam wieder in die Kissen half und die Bewegung ihn schmerzlich daran erinnerte, dass er nur knapp dem Tod entronnen war.

»Verzeiht mir«, murmelte Larkin und im nächsten Moment spürte Kian eine warme Hand auf seiner Stirn, während sich eine zweite auf seine Brust legte und der Mann eine leise Melodie summte.

Der Schmerz ließ beinahe augenblicklich nach und Kian blinzelte überrascht. Er hatte also Recht gehabt. Die Stimme gehörte Larkin. Und wie es schien, war Larkin sehr viel mehr als ein einfacher Heiler.

»Ihr habt mich gerettet«, sagte Kian leise.

Larkin warf ihm einen Blick aus dem Augenwinkel zu und nickte dann.

»Ich schulde Euch meinen Dank, Larkin.«

Larkin erstarrte, bevor er langsam den Kopf drehte, um Kian mit sichtlichem Erstaunen anzublicken. Es lag eine Verletzlichkeit in seinen Augen, die Kian stutzen ließ. Es schien fast als … als wäre Larkin überrascht, dass sich jemand für seine Dienste bedankte. Aber wie konnte das sein?

»Ich weiß, dass die Wunden tödlich waren«, sagte er. »Ich hätte es niemals überlebt, wenn Ihr nicht gewesen wärt. Dafür danke ich Euch, Larkin. Ich stehe tief in Eurer Schuld.«

Larkin schüttelte den Kopf, doch seine Augen leuchteten und an seinen Mundwinkeln zupfte ein Lächeln. »Ihr schuldet mir nichts«, sagte er und seine Stimme klang ein wenig fester als zuvor. »Ich bin froh, dass ich Euch noch rechtzeitig fand.«

Kian erlaubte sich ein winziges Lächeln. »Das bin ich auch und mein Name ist Kian.«

Larkins ganzes Gesicht hellte sich mit einem Schlag auf und seine ganze Haltung entspannte sich sichtlich. »Kian«, wiederholte er und nickte kurz. »Ich fürchte, Kian, Ihr werdet den Winter mit meiner Gesellschaft vorliebnehmen müssen, bis es Euch besser geht.« Er erhob sich rasch und kam kurz darauf mit einer Schale in der Hand zurück.

»Es wäre gut, wenn wir etwas Nahrung in Euch bekämen, bevor Ihr wieder einschlaft«, erklärte Larkin und Kian lief bei dem würzigen Duft, der von der Schale zu ihm herüberwehte, das Wasser im Mund zusammen. »Fühlt Ihr Euch dazu in der Lage?«

Kian nickte rasch.

Er konnte regelrecht spüren, wie die kräftige Brühe seine Lebensgeister weckte und es ihm mit jedem Bissen ein wenig besser zu gehen schien.

»Sagt mir, Larkin«, begann Kian, nachdem Larkin die Schale weggeräumt hatte, »wie schlimm sind die Verletzungen wirklich?«

Larkin seufzte und Kians Mut sank, als Larkin erneut die Augen niederschlug. »Ich will es nicht beschönigen, ich habe selten so schreckliche Wunden gesehen«, sagte der Hexer und eine steile Falte erschien zwischen seinen Brauen. »Ich fürchte, ich werde es nicht verhindern können, dass einige Narben zurückbleiben. Es tut mir leid.«

»Narben?«, echote Kian, nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte.

»Die Wunden sind sehr tief und ich fürchte meine Kräfte reichen nicht so weit, um –«

»Wollt Ihr damit sagen, dass bis auf ein paar Narben alles verheilen wird?«, unterbrach Kian ihn.

Larkin sah ihn verwirrt an. »Ja, aber –«

»Ich werde wieder laufen können?«

Larkin biss sich auf die Lippe, den Blick zur Seite gerichtet. »Es wird eine Weile dauern, aber –«

»Und …« Kian wagte es kaum zu fragen. Zu gut erinnerte er sich noch an das Gefühl von messerscharfen Krallen, die sich tief in sein Fleisch gruben und ihm den Schwertarm halb von der Schulter getrennt hatten. »… mein Arm?«, endete er mit einem heiseren Flüstern.

Larkins Blick wurde weich und er legte Kian zögerlich eine Hand auf den in dicke Verbände gehüllten Arm.

»Ihr werdet Geduld haben müssen, doch ich versichere Euch, dass bis auf ein paar Narben alles vollständig verheilen wird.«

Kian schloss die Augen, als die Erleichterung ihn schwindeln ließ. Er war froh gewesen, dass er mit dem Leben davongekommen war und nun erzählte ihm dieser Mann, dass nichts weiter als ein paar Narben zurückbleiben würden? Es war kaum zu glauben. Nicht einmal die Heiler des Königs hätten ein solches Wunder vollbringen können, dessen war sich Kian sicher.

»Wer –«, begann er und verstummte abrupt, als ihn die Erkenntnis wie ein Schlag traf. Larkin – der Name war ihm gleich so bekannt vorgekommen und Kian konnte sich nur einen Mann vorstellen, der genug Macht besaß, um tödliche Wunden zu heilen.

»Ihr seid der Hüter der Schatten«, entfuhr es ihm, ehe er die Worte zurückhalten konnte. Er hatte es für nicht mehr als eine Legende gehalten und ein Teil von ihm glaubte noch immer nicht so recht daran.

Larkins Kopf fuhr mit einem Ruck in die Höhe und er sah Kian aus weit aufgerissenen Augen an, das Gesicht aschfahl. Seine Lippen bewegten sich einige Male, ohne jedoch einen Laut hervorzubringen, und es war ihm regelrecht anzusehen, wie er innerlich mit sich rang.

Schließlich senkte er den Blick in stummer Resignation.

»Ja«, sagte er tonlos, während sein Gesicht feuerrot anlief, »der bin ich.«

Er sank in sich zusammen, als hätte Kian gerade das Todesurteil über ihn gesprochen. Larkins Verhalten war ausgesprochen verwirrend und Kian konnte sich keinen Reim darauf machen. Aber er konnte es nicht ertragen, Larkin so niedergeschlagen zu sehen. »Ich war der festen Überzeugung, der Hüter wäre ein verhutzelter, alter Mann mit langem, weißen Bart, brennenden Augen und meckerndem Lachen«, sagte er.

Larkin sah überrascht auf und die Unsicherheit und Verwirrung, die sich auf seinem Gesicht abzeichneten, verschwanden schnell, als Kian ihn angrinste. Larkins Mundwinkel zuckten in der Andeutung eines Lächelns.

»Nun, die … äh … passenden Augen habe ich immerhin«, sagte er, während seine Augen hin und wieder zu Kian huschten.

Kians Grinsen wurde breiter. »Aber an dem Bart werdet Ihr wohl noch eine Weile arbeiten müssen.«

Larkin warf Kian einen Blick aus dem Augenwinkel zu. »Nun, da habt Ihr mir einiges voraus.«

Kian runzelte verwirrt die Stirn, bis ihm aufging, dass der Hexer einen Scherz gemacht hatte. Er gestattete sich ein Lachen und bereute es sofort, als heißer Schmerz durch seinen Leib schoss.

Augenblicklich war Larkins Hand zurück auf seiner Stirn und der Gesang hob von neuem an.

»Verzeiht«, sagte der Hexer schließlich mit einem verlegenen Lächeln. »Vielleicht warten wir mit den Scherzen, bis es Euch bessergeht.«

»Bedauerlich, aber vielleicht habt Ihr Recht«, erwiderte Kian. »Allerdings hätte ich nichts dagegen, mich wieder von meinem Bart zu trennen.« Nun, da Larkin ihn daran erinnert hatte, begannen die Stoppeln in seinem Gesicht fürchterlich zu jucken. Und er war nicht einmal in der Lage eine Hand zu heben, um sich zu kratzen.

Larkins Augen funkelten. »Ich finde, er steht Euch ausgezeichnet.«

Kian lächelte langsam. Sieh an, da steckte tatsächlich mehr hinter diesen goldenen Augen.

»Mag sein«, erwiderte Kian betont gleichgültig. »Jedoch wäre es bedauerlich, wenn mich das Jucken in den Wahnsinn triebe, nicht wahr?«

Larkin lachte nur.

 

2

 

»Ist dir bewusst, dass du jedes Mal anfängst zu summen, wenn du mich untersuchst?«

»Hm?« Larkin hörte Kian nur mit halbem Ohr zu, sorgsam darauf bedacht, seine Konzentration nicht zu verlieren, während seine Hände behutsam über die gebrochenen Knochen in Kians Bein wanderten. Es würde noch eine Weile dauern, bis der Krieger wieder ohne Schmerzen würde laufen können, doch Larkin war zuversichtlich, dass alles vollständig verheilen würde.

Die Wunden waren fürchterlich gewesen und es grenzte an ein Wunder, dass Kian den Ritt durch den Schattenwald überlebt hatte. Er musste einen ganzen Hofstaat an Schutzgeistern um sich geschart haben oder unwahrscheinlich viel Glück haben.

Vielleicht auch beides, bedachte man, dass er freiwillig mit nicht mehr als einem halben Dutzend Männern, von denen kein einziger über Magie verfügt hatte, gegen einen ausgewachsenen Greifen ins Feld gezogen war.

Larkins Lied fand ein jähes Ende, als Kians Lachen seine Konzentration brach.

»Was?«, fragte Larkin, ein wenig schärfer als gewöhnlich ob der plötzlichen Unterbrechung.

Kian lachte wieder. »An dir ist wahrhaftig ein Barde verloren gegangen. Singst du für all deine Patienten?«

Einen Moment lang konnte Larkin Kian nur wortlos anstarren, bevor die Worte ihren Weg in Larkins Verstand fanden.

Singen.

Mit einem Seufzen ließ er sich auf die Fersen sinken, den Blick starr auf die Laken gerichtet, auf denen Kian lag und die an manchen Stellen bereits ein wenig fadenscheinig wirkten. Er konnte die Hitze spüren, die ihm den Hals hinaufkroch und seine Wangen zum Glühen brachte.

»Es ist meine Magie«, sagte Larkin leise und mit hängendem Kopf, sich innerlich bereits gegen das Unausweichliche wappnend. Nicht genug, dass er ein Mann war, obwohl die Hüter seit jeher nur Frauen waren, nein, die Geister mussten ihn auch noch mit dieser seltsamen Magie schlagen, die sich so sehr von der Art und Weise unterschied, wie andere Hexen ihre Magie riefen.

Schattenzunge hatten ihn die anderen Kinder gerufen und manche von ihnen nannten ihn noch heute so hinter vorgehaltener Hand. Tilda allen voran.

»Deine … Magie?«, erwiderte Kian und Larkin konnte das Stirnrunzeln in seiner Stimme hören. »Aber ich dachte, um Magie zu wirken, bräuchte man Sprüche und Formeln.«

Larkin starrte auf seine Hände. Natürlich war Kian als Krieger im Dienst des Königs bereits anderen Magiern begegnet und würde wissen, wie andersartig Larkin war.

Wechselbalg. Missgeburt. Schattenzunge, wisperte es durch seinen Geist.

Seine Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten und er stand hastig auf, als er Ärger und Verzweiflung in sich aufsteigen spürte und seine Magie unter seiner Haut zu prickeln begann. Er würde vor Kian nicht die Beherrschung verlieren, bei der Seele des Waldes, er würde nicht die Kontrolle verlieren! Er klammerte sich an die Worte wie an einen rettenden Anker, bis der aufkeimende Sturm in seinem Inneren sich allmählich legte.

Als Kian jedoch einen unterdrückten Fluch von sich gab und Larkin zur selben Zeit den Misston in Kians Lied wahrnahm, erstarrte er und dachte voller Grauen daran, wozu seine Magie in der Lage war, wenn er die Beherrschung verlor.

Bitte lass nichts geschehen sein, flehte er inständig, bevor er sich langsam umdrehte.

Kian saß auf der Kante seines Bettes, das Gesicht weiß wie ein Laken, die Zähne zusammengebissen und die Hände so fest um die Bettkante geklammert, dass die Knöchel weiß hervortraten, das verletzte Bein ungelenk vor sich ausgestreckt.

»Hast du den Verstand verloren?«, entfuhr es Larkin und der Schrecken, den er noch einen Augenblick zuvor verspürt hatte, ließ seine Stimme schärfer klingen, als beabsichtig. »Ich habe dir doch gesagt, dass das Bein noch für eine Weile ruhen muss. Willst du, dass ich mit der ganzen Heilung von vorn anfangen muss?« Die plötzliche Erleichterung darüber, Kian nicht versehentlich mit seiner Magie verletzt zu haben, machte ihn für einen Moment schwindeln.

Kians Augenbrauen zogen sich zusammen, als er Larkin mit einem finsteren Blick bedachte. »Verzeih mir, dass ich mir Sorgen gemacht habe, als du plötzlich davonliefst und nichts mehr um dich herum wahrzunehmen schienst. Schatten und Verdammnis, Larkin, du bist noch immer bleich wie der Tod!«

Larkin rieb sich mit einer Hand über die Augen und atmete langsam aus. Stumm half er Kian zurück ins Bett, sich des durchdringenden Blickes des Mannes deutlich bewusst, und suchte fieberhaft nach den richtigen Worten, während er Kians Bein ein zweites Mal untersuchte.

»Ich bin … nicht gewöhnlich«, begann er schließlich stockend.

Kian stieß ein kurzes Lachen aus. »Nun, das ist mir bereits aufgefallen. Was hat das mit deiner Magie zu tun oder dem«, er machte eine vage Handbewegung in Richtung des Kamins, an den sich Larkin zuvor geflüchtet hatte, »was auch immer da gerade geschehen ist?«

Larkin ließ sich mit einem Seufzen zu Boden sinken, den Rücken gegen das Bett gelehnt, sodass er Kian nicht in die Augen sehen musste, die Arme auf den angezogenen Knien ruhend, während seine Finger an einem losen Faden in seinem linken Ärmel zupften.

»Ich brauche keine Sprüche, keine albernen Handbewegungen, um mir die Magie gefügig zu machen«, sagte er leise und starrte auf seine Hände. »Ich kann die Magie der Welt … hören. Es ist wie ein gewaltiger Teppich aus Klängen, Tönen und verschiedenen Melodien, in der jedes Ding, jedes Wesen seinen Platz hat und sich mit seinem eigenen Lied in den großen Tanz einreiht.« Er legte den Kopf schräg, als er auf die Magie, die ihn umgab, lauschte. »Zaubersprüche sind für mich nichts als leere Worte, wenn ich jedoch den richtigen Ton finde …« Er summte leise und wie aus dem Nichts erhob sich ein Spatz von seinen Händen, flatterte einige Male um Kians Kopf herum, bevor er auf einen Pfiff hin in einem Funkenregen verschwand.

Larkin schlug hastig die Augen nieder, als er Kians überraschtem Blick begegnete, und verfluchte sich im Stillen für das alberne Schauspiel.

Eine warme Hand legte sich auf seine Schulter und die ungewohnte Berührung ließ Larkin unwillkürlich zusammenzucken. Doch die Hand verschwand nicht, sondern blieb, wo sie war, ihr Gewicht seltsam beruhigend.

»Das ist … erstaunlich«, sagte Kian nach einer Weile. »Ist es, weil du der Hüter bist, dass du über diese Magie verfügst?«

Larkin sah überrascht auf, doch er fand keinen Spott in Kians Miene, wie er erwartet hatte, stattdessen blickte Kian ihn offen und mit ehrlichem Interesse in den dunklen Augen an.

Larkin seufzte. »Nein«, sagte er zögernd. »Nein, ich bin …« Wider die Natur. Missgeburt. Schattenbrut.

»Einzigartig?«, schlug Kian vor.

Larkin blinzelte, öffnete den Mund und schloss ihn wieder, als die Worte ausblieben.

Einzigartig.

Kian hatte ja keine Ahnung, wie einzigartig Larkin tatsächlich war.

Larkin zuckte die Achseln und starrte wieder seine Hände an. »Die meisten Leute würden weniger schmeichelhafte Ausdrücke verwenden«, sagte er und dachte an Tilda und ihre finsteren Blicke.

»Mir scheint, die meisten Leute sind ausgemachte Dummköpfe.«

Larkin musste gegen seinen Willen lachen und schüttelte den Kopf. »Wo bist du nur all die Jahre gewesen?«, murmelte er und erstarrte, als ihm aufging, dass er die Worte laut ausgesprochen hatte.

Das Lächeln auf Kians Gesicht verschwand augenblicklich und machte einer Härte Platz, die Larkin einen Schauer über den Rücken jagte und ihm ins Gedächtnis rief, dass er einem Krieger gegenübersaß, der sich nicht davor scheute, gegen einen Greifen ins Feld zu ziehen.

»Ist das der Grund, weshalb du allein lebst?« Selbst Kians Stimme klang schärfer. Der Griff um Larkins Schulter wurde beinahe schmerzhaft fest.

»Ich fürchte, ich verstehe nicht …«

»Du bist mächtig genug, um mich zurückzuholen, als ich bereits auf der Schwelle des Todes stand, mächtig genug sogar, um dieses verfluchte Bein wieder vollständig zu heilen – und Larkin, ich habe es gesehen, habe gespürt, wie die Knochen brachen, selbst die Heiler des Königs hätten nichts mehr für mich tun können. Warum bei allen verfluchten Schatten fristest du hier mutterseelenallein und von allen verlassen dein Dasein? Noch dazu, wo Mittwinter vor der Tür steht. Niemand sollte zu Mittwinter allein sein, was tust du hier?«

Larkin blinzelte. Mittwinter? Er hatte völlig vergessen, dass Mittwinter war. Woher wusste Kian, dass Mittwinter war?

»Du bist hier«, sagte er und hoffte, dass die Erklärung Kian zufrieden stellen würde.

Kians Augen verengten sich und sein Blick wurde scharf. »Und was hättest du getan, wäre ich nicht hier? Wenn du mich nicht im Wald gefunden hättest?«

Larkins Finger kehrten zu dem losen Faden an seinem Ärmel zurück und zerrten so lange daran, bis er riss.

»Nichts«, sagte er schließlich. Wie jämmerlich er in Kians Augen erscheinen musste, dass er zu Mittwinter allein in seiner Hütte hockte, fernab von allen Festlichkeiten.

Kian seufzte. »Warum, Larkin?«

Larkin schlang die Arme um die Knie.

Es war nicht immer so gewesen. Als Kind hatte er mit seiner Mutter den Festlichkeiten im Dorf beigewohnt und dabei zugesehen, wie das ganze Dorf im flackernden Schein unzähliger Fackeln erstrahlte und die Tänze zu Ehren der Geister begannen.

Larkin war seit Jahren nicht mehr dort gewesen. Klara versuchte zwar, ihn jedes Jahr wieder dazu zu überreden, doch er konnte die misstrauischen Blicke nicht länger ertragen. Die meisten wollten ihn nicht dabeihaben und so blieb er fern.

»Ich …«

Er senkte den Kopf und fuhr sich mit den Händen durch sein ewig wildes Haar. Es wäre so leicht, sich Kian anzuvertrauen, all den Ärger und die Verzweiflung mit jemandem zu teilen. Doch eine leise Stimme erinnerte ihn daran, dass Kian ihn genau wie alle anderen ansehen würde, wenn er nur wüsste, wozu Larkin in der Lage war. Und es brachte ohnehin nichts, über Dinge zu reden, die sich niemals ändern würden.

»Es ist nichts«, sagte er schließlich und kämpfte sich auf die Beine, die bereits steif vom langen Sitzen auf den kalten Dielen geworden waren.

»Larkin!« Kians Finger streiften Larkins Ärmel, bevor Larkin sich außer Reichweite begeben konnte.

»Es ist nichts«, wiederholte er mit mehr Nachdruck und wusste nicht, wen er damit zu überzeugen versuchte. Er ging mit raschen Schritten zur Tür. Die Hütte wirkte mit einem Mal zu eng, zu stickig, wie ein Käfig, in dem er wie eine Maus gefangen war, und er musste hinaus, brauchte frische Luft.

»Ich schwöre dir, Larkin, wenn du jetzt davonläufst, werde ich dir folgen und ein paar gebrochene Knochen werden mich kaum aufhalten können.«

Larkin erstarrte, eine Hand bereits auf dem Türknauf. Er zweifelte nicht daran, dass Kian seine Drohung wahrmachen würde. Der Mann war bisweilen sturer als Larkins Esel.

Doch wenn Larkin blieb …

Er konnte die Magie bereits unter seiner Haut spüren, wie ein unangenehmes Jucken, und es war mehr als beunruhigend festzustellen, wie seine Kontrolle, die er sich über die Jahre mühsam erkämpft hatte, ihm so schnell entgleiten konnte. Er konnte nicht bleiben, nicht mit Kian in der Nähe, der niemals verstehen würde, der in Gefahr war …

»Larkin, beruhige dich.«

Larkin fuhr mit einem erstickten Schrei herum, als die vertraute Stimme mit einem Mal dicht hinter ihm erklang, und starrte mit weit aufgerissenen Augen zu Kian empor, der nicht einmal eine Armeslänge von Larkin entfernt stand.

»Was tust du?«, rief Larkin aus und wich zurück, bis er mit dem Rücken zur Tür stand. »Dein Bein …«

Kian musterte ihn aus schmalen Augen. »Was ist los mit dir, Larkin? Wovor läufst du davon?«

Larkin schloss die Augen vor Kians stechendem Blick und presste die zitternden Hände gegen das kühle Holz der Tür. »Nichts … ich …«

Er biss die Zähne zusammen, als er die Magie dicht unter seiner Haut spürte. Es fühlte sich an, wie damals, als er Jerrick beinahe mit einem Blitz getroffen hätte, als wäre seine Haut zu eng für seinen Leib.

»Nein«, flüsterte er und schüttelte stumm den Kopf, als ein gewaltiger Donnerschlag das Haus erbeben ließ. Erschrocken riss er die Augen auf und starrte zur Decke empor. Wind machte sich auf, rüttelte an den Fensterläden und heulte wie ein wildes Tier.

»Seele des Waldes, nein.« Er wollte nicht, dass Kian erfuhr, wozu er in der Lage war und die Furcht fachte seine Magie nur noch mehr an, brachte seine Beherrschung nur noch mehr ins Wanken.

»Sieh mich an, Larkin.« Eine Hand legte sich um sein Kinn und drehte seinen Kopf, bis er in dunkelblaue Augen blickte. »Beruhige dich, ich will dir nichts tun«, sagte Kian, sein Tonfall sanft.

»Du verstehst nicht …« Larkins Stimme zitterte. »Du weißt nicht, wozu ich in der Lage bin.«

Er zuckte zusammen, als ein weiterer Donnerschlag erklang und hasste sich dafür, dass er sich nicht besser unter Kontrolle hatte, dass er nicht stärker war, noch dazu vor Kian.

Die Kerzenflammen loderten hell auf und das Feuer brüllte im Kamin, obwohl nur noch ein Holzscheit darin lag. Gläser klirrten auf den Regalen, die Seiten des Zauberbuches, das Larkin auf dem Tisch hatte liegen lassen, raschelten wie von einer unsichtbaren Hand bewegt.

Larkin sank auf die Knie und presste die Stirn gegen den kalten Boden, die Arme noch immer um sich geschlungen, während er darum kämpfte, die Macht, die in ihm tobte, zurück in ihre Schranken zu weisen.

Nur am Rande nahm er die dunkle Stimme wahr, die sanft auf ihn einredete. Hände griffen nach ihm und er wimmerte leise, als sein Kopf angehoben wurde und er im nächsten Moment von Wärme und Kians vertrauter Melodie umgeben war.

»Ich kann es nicht beherrschen«, flüsterte er.

Eine warme Hand legte sich in seinen Nacken. »Doch das kannst du. Das hast du bereits. Beruhige dich, Larkin.«

Ein Schauder erfasste seinen Leib und es dauerte eine Weile, bis seine Glieder aufhörten zu zittern. Eine tiefe Müdigkeit erfasste ihn, wie jedes Mal wenn er einen ungeheuer mächtigen Zauber wirkte, und nach dem Sturm zu urteilen, der immer noch um die Hütte heulte, hatte sein Ausbruch sehr viel seiner Kraft in Anspruch genommen.

»Es ist nicht … natürlich«, murmelte er. »Niemand sollte über so viel Magie gebieten.«

Eine Hand strich ihm über das Haar, bevor eine dunkle Stimme über ihm ertönte. »Wenn es jemanden gibt, dem ich ohne weiteres so viel Macht anvertrauen würde, so bist du es.«

Er war sich vage des Umstandes bewusst, dass sein Kopf in Kians Schoß gebettet lag, doch er konnte nicht genügend Kraft aufbringen, sich darüber oder über die Hand in seinem Haar zu wundern. »Du kennst mich kaum.«

»Du teilst seit Wochen mit mir dein Heim. Ich glaube, ich habe genug gesehen, um mir ein Urteil darüber bilden zu können.«

»Die Leute im Dorf kennen mich seit Kindesbeinen an und glauben dennoch, ich wäre mit den Schatten im Bunde«, sagte Larkin und erschrak über die Bitterkeit, die aus seinen Worten sprach.

»Warum sollten sie so etwas glauben?«, fragte Kian.

Larkin stieß einen tiefen Seufzer aus. Er war so unendlich müde.

»Du hast gesehen, wozu ich in der Lage bin. Als ich ein kleiner Junge war … es war schwer, mit so viel Macht umzugehen, besonders wenn starke Gefühle mit im Spiel waren. Dinge … geschahen manchmal, ohne dass ich es wollte.« Er lachte verlegen. »Offenbar geschehen sie noch immer.«

Er nahm einen tiefen Atemzug, bevor er fortfuhr. »Als ich sieben war, hätte ich einen der Jungen beinahe mit einem Blitz getötet, weil ich mich so sehr über ihn geärgert habe. Danach … nun, die Leute, die am Rande des Schattenwaldes wohnen, sind ein abergläubisches Volk. Die Mutter des Jungen hat mir bis heute nicht verziehen, obwohl ich danach schnell lernte, meine Kraft zu beherrschen. Aber sie wissen alle, was ich getan habe und es hilft nicht, dass ich diese seltsamen Augen habe, die niemanden vergessen lassen, was ich bin.«

Er schloss die Augen, als sie zu brennen anfingen und wollte sich in einem Mauseloch verkriechen, bis er die Welt um sich herum vergessen konnte.

»Ich mag deine Augen.«

Die Hand in Larkins Haar erstarrte und Larkin fragte sich verwundert, ob er sich wohl verhört hatte. Doch als er den Kopf wandte, starrte Kian ihn mit offenem Mund und geröteten Wangen an, als könnte er selbst nicht glauben, was er da so eben gesagt hatte.

Der Anblick war so unerwartet, dass Larkin sich ein Lächeln nicht verbeißen konnte. »Tust du das?«, fragte er und war überrascht über das Lachen, das ihm über die Lippen schlüpfte.

Es zuckte um Kians Mundwinkel und dann stimmte er in Larkins Lachen mit ein. »In der Tat, das tue ich.«

»Du bist ein seltsamer Mann, Kian.«

»Vielleicht bin ich das«, sagte Kian, den Blick in die Ferne gerichtet und Larkin wurde einmal mehr daran erinnert, wie wenig er doch über Kian wusste, wie wenig der Mann für gewöhnlich von sich preisgab.

»Warum tust du das?«, fragte Larkin unvermittelt. Er bedauerte den Verlust von Kians Hand in seinem Haar, als er sich aufsetzte, und schalt sich einen Narren dafür. »Warum …« Warum bist du so freundlich zu mir, dachte er, brachte die Worte jedoch nicht über die Lippen.

Kian seufzte und legte Larkin eine Hand auf die Schulter. »Das ist es, was Freunde für einander tun, Larkin.«

Larkin blinzelte. »Freunde?«, fragte er ungläubig.

Kian zuckte in einer beinahe verlegenen Geste mit den Achseln und senkte kurz den Blick, bevor er Larkin wieder in die Augen sah. »Wenn du mich haben willst?«

Larkin konnte sich keinen Grund denken, warum ein Ritter im Dienste des Königs einem verschrobenen Hexer, der in den Tiefen des Schattenwaldes hauste, seine Freundschaft anbieten würde.

Erst als Kian den Blick abwendete und Larkin die Anspannung in seinen Zügen bemerkte, ging ihm auf, dass Kian noch immer auf eine Antwort wartete.

»Es wäre mir eine Ehre«, sagte Larkin.

Kians Kopf fuhr in die Höhe und seine dunkelblauen Augen leuchteten, wie Larkins es taten, wenn er Magie wirkte. »Die Ehre ist ganz meinerseits.«

 

~*~

 

Dichter Nebel hing zwischen den Bäumen und hier und da lag noch ein wenig Schnee, als Kian sich so weit erholt hatte, dass er seinen Abschied nehmen konnte. Seine Stute war bereits gesattelt und Larkin hoffte, er hatte Kian genügend Proviant eingepackt.

»Ich danke dir, Larkin, für alles, was du für mich getan hast«, sprach Kian feierlich.

Larkin schlug verlegen die Augen nieder. »Es war mir eine Ehre, mein Freund«, erwiderte er leise, während ihm ein brennender Schmerz durchs Herz fuhr. Kian war ihm ein guter Freund in den vergangenen Wochen geworden und der Gedanke an die einsamen Tage, die ihm nun bevorstünden, füllte Larkin mit Grauen.

Er wollte Kian festhalten, ihn anflehen, noch ein paar Tage zu bleiben, doch er brachte kein Wort über die Lippen und konnte Kian nur stumm anstarren.

Kian musterte Larkin einen Moment lang mit undeutbarer Miene, bevor er einen Schritt auf Larkin zumachte und ihn unvermittelt in eine feste Umarmung zog.

Einen Augenblick lang war Larkin wie versteinert, bevor er fest die Arme um Kian schlang und sich wünschte, er müsse Kian nicht ziehen lassen.

»Wir werden uns wiedersehen, mein Freund, das verspreche ich dir«, erklärte Kian heiser, bevor er Larkin wieder freigab und sich auf sein Pferd schwang, das es kaum erwarten zu können schien, endlich fortzukommen.

Larkin fühlte sich wie ein Schatten seiner selbst, als hätte das Gift der Schatten, die im Wald gefangen waren, seinen Weg in seine Adern gefunden, als hätte Kian den letzten Rest Wärme mit sich genommen. Nicht einmal die einzelnen Sonnenstrahlen, die sich allmählich ihren Weg durch den Nebel bahnten, vermochten Larkin zu erreichen.

Geh nicht, wollte er sagen, bleib bei mir. Denn Kians Worten zum Trotz wussten sie beide, dass sie sich wohl niemals wiedersehen würden. Als Soldat im Dienst des Königs würde Kian kaum Zeit haben, den weiten Weg zum Schattenwald auf sich zu nehmen, während Larkins Platz hier bei den Schatten war.

Er vergrub die Hände tief in den Hosentaschen und zog die Schultern hoch, doch es half alles nichts gegen die Kälte in seinem Inneren. Er konnte nur stumm zusehen, wie sein Freund sich zur Abreise bereit machte.

Ein letztes Nicken, ehe sich die braune Stute in Bewegung setzte.

»Warte!«, platzte Larkin heraus, als seine Hand den Talisman in seiner Tasche streifte.

Kian drehte sich überrascht zu Larkin um, der ihm das Lederband mit dem münzgroßen, silbernen Anhänger entgegenhielt.

»Was ist das?« Kian griff erstaunt nach dem Amulett, das Larkin in den letzten Wochen heimlich für ihn angefertigt hatte.

»Es ist ein Schutzzauber«, erklärte Larkin, um einen leichten Tonfall bemüht. Er scheiterte kläglich. »Ich dachte, im Dienste des Königs könnte es dir sehr von Nutzen sein. Vor allem, wenn du dich das nächste Mal todesmutig einer Greifenmutter in den Weg stellst.« Larkin wich Kians suchendem Blick aus. Es war das mächtigste Amulett, das Larkin je gefertigt hatte, mächtig genug um sogar vor Drachenfeuer zu schützen, zumindest für eine kurze Zeit.

»Du hast es gemacht?«, fragte Kian.

Larkin nickte stumm.

Kian lachte leise, als er das Bild des Greifen erblickte, das Larkin in das Amulett graviert hatte.

»Larkin, es ist wunderschön. Ich wusste nicht, dass du solch feine Dinge anfertigen kannst.«

Die Hitze stieg Larkin bei dem unerwarteten Lob ins Gesicht, sodass er verlegen die Augen niederschlug. »Du kannst das Lederband jederzeit austauschen, ich hatte leider nichts Besseres zur Hand. Wichtig ist nur, dass du den Talisman dicht am Herzen trägst«, erklärte er rasch, während er sich mit dem Finger auf die Brust tippte.

Kian hing sich das Schmuckstück mit einem seltsamen Ausdruck in den dunklen Augen um den Hals. »Da sollte ich derjenige sein, der dich belohnt, weil du mir das Leben gerettet hast, mich den Winter über gesund gepflegt und mit mir Heim und Herd und sogar deine Freundschaft geteilt hast, und stattdessen erhalte ich ein weiteres Geschenk von dir. Larkin, du bist wahrlich ein außergewöhnlicher Mann. Die Leute sollten um deine Gunst buhlen, anstatt dich derart zu fürchten.«

Larkin zuckte nur mit den Achseln. »Die Leute fürchten, was sie nicht kennen.«

»Fürwahr das tun sie – zu ihrem eigenen Schaden. Gib auf dich Acht, Larkin.« Kian beugte sich herab und packte Larkins Schulter in einem festen Griff, bevor sich die Stute wieder in Bewegung setzte und Kian mit sich nahm.