Gesang der Schatten: Die Fengard Chroniken 4
Wie viel bist du bereit zu opfern?

Über das Buch:
Nach seiner Krönung zum neuen König von Fengard steht Kian vor der Herausforderung ein bröckelndes Königreich zusammenzuhalten und gleichzeitig einen neuen Frieden mit den Feen auszuhandeln.
Da verschwindet sein Gemahl Larkin, einer der mächtigsten Hexer im Reich, eines Nachts spurlos im Schattenwald.
Während Kian gemeinsam mit Larkins Vater, dem Drachen Rakhanis, und dem Greifen Failan das Königreich nach Larkin durchkämmt, wird schnell deutlich, dass mehr hinter Larkins Verschwinden steckt, als sie anfangs dachten. Denn im Schattenwald regt sich ein uraltes Übel, dessen Macht größer ist, als die vereinte Kraft der vier Völker Fengards.
Als der Feind immer mehr an Boden gewinnt und nichts und niemand ihm Einhalt gebieten kann, sieht Kian sich zu einer verzweifelten Tat gezwungen, um sowohl Larkin als auch sein Königreich zu retten.
Doch kommt sein Opfer noch rechtzeitig? Oder steht ihnen tatsächlich das Ende der Welt bevor?
Das epische Finale!
Die Helden von Fengard müssen die vier Völker Fengards vereinen, denn nur gemeinsam haben sie eine Chance, die Dunkelheit zu besiegen.
Gelingt es ihnen, alte Feindschaften zu überwinden?
High Fantasy mit epischem Worldbuilding und queerer Romantik ohne explizite Szenen. Fantastik für Herz und Seele.
400 Seiten, als Kindle E-Book oder Taschenbuch (bei jeder Buchhandlung bestellbar)
ISBN 978-3-756536-62-7
Die Fengard Chroniken 4: Gesang der Schatten – Leseprobe
Prolog
Er wusste nicht, wie lange sie bereits geritten waren, doch er war bis auf die Haut durchnässt und der Sack, den sie ihm über den Kopf gezogen hatten, klebte mit jedem Atemzug an seinem Gesicht.
Es war erniedrigend.
Er fühlte sich schwach, nachdem er so lange von seinem Land getrennt gewesen war, und die schweren Eisen an seinen Handgelenken trugen ihr Übriges bei.
Er streckte seine Sinne aus und dann fühlte er es – selbst durch das Eisen hindurch –, das scharfe Summen der Magie und dahinter das Feenland und dessen Magie. Sein Pferd schnaubte und beschleunigte seinen Schritt, als fühlte es seine Unruhe.
Jemand hielt sein Pferd zurück und dann ging ein Ruf durch die Reihen, bevor sie gänzlich zum Stillstand kamen. Sie konnten nicht mehr als einen Steinwurf entfernt sein. Jemand band ihn vom Pferd los und er schwang sich aus dem Sattel, um der Demütigung zu entgehen, dass ein Mensch ihm vom Pferd half und spürte bereits eine Klinge an der Kehle, kaum dass seine Füße den Boden berührt hatten.
»Gib mir ruhig einen Grund, Fee«, murmelte einer der Menschenkrieger. Er klang wie derjenige mit der krummen Nase und den struppigen Haaren.
Cadogan stand stocksteif und wagte kaum zu atmen. Erst auf einen scharfen Befehl des Königs hin verschwand das Schwert und der Sack wurde ihm vom Kopf gerissen. Er blinzelte.
Grobe Stricke wurden um seine Handgelenke geschlungen und dann um seine Fußgelenke. Sie schoben ihn bis dicht an die Grenze. Er hatte kaum Zeit aufzuatmen, als er die Eisen endlich los war, als jemand ihm einen harten Stoß in den Rücken gab und er vorwärts taumelte, direkt über die Grenze.
Die Magie durchfuhr ihn wie ein Blitz. Er hatte die Grenze nicht mehr überquert, seit die Bresche geschlossen worden war, und so war er nicht im Geringsten darauf vorbereitet, wie sehr sich die Magie verändert hatte. Sie hatten die Bresche geschlossen, doch es fühlte sich an, als wäre der ganze Zauber verändert worden. Er brannte durch Cadogan, hielt ihn für einen Augenblick gefangen wie eine Motte im Spinnennetz, brannte bis auf den Grund seiner Seele, ehe die Magie ihn auf der anderen Seite der Grenze wieder ausspuckte und er schwer auf dem Boden aufschlug.
Sofort spürte er den süßen Gesang des Landes, seines Landes. Rein und unbefleckt. Selbst die Luft schmeckte klarer. Er lag noch einen Augenblick so da, dann gebrauchte er die Magie, um die Stricke um seine Hand- und Fußgelenke zu lösen. Er warf dem jungen König ein anzügliches Lächeln über die Schulter zu, als er auf die Füße kam, und erstarrte dann, als er sich umwandte und sich der geballten Macht seines Volkes gegenübersah.
Er hätte sich denken können, dass Nirael sie nun anführte, doch die Fee neben ihr … Cadogan stockte der Atem. Maral. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und fast wäre er gestolpert, doch er riss sich im letzten Moment zusammen. Sie hob den Blick, als spüre sie seine Aufmerksamkeit und wahrscheinlich tat sie das auch, obwohl ihre Augen seit Jahrhunderten blind waren. Man erzählte sich, dass sie Jahrtausende alt war und sogar die Schattenkriege selbst erlebt hatte. Für gewöhnlich lebte sie abgeschieden an der Küste und war darin vertieft, den Lauf der Welt zu beobachten. Sie war keine Seherin, doch sie besaß die Fähigkeit, Dinge wahrzunehmen, die jedem anderen verborgen blieben und hatte über ihr langes Leben gelernt, die Muster der Welt zu deuten. Man munkelte, dass sie sogar die Fähigkeit besaß, Worte der Macht auszusprechen, wenngleich Cadogan es noch nie miterlebt hatte und auch sonst niemanden kannte, der es hätte bezeugen können.
Er verbarg seine Unruhe hinter seinem arrogantesten Lächeln. »Ich danke euch, dass ihr mich zurückgeholt habt.« Es schadete nichts, ihnen ein wenig zu schmeicheln, solange er nicht wusste, was sie mit ihm vorhatten.
»Das hast du ganz allein Nirael zu verdanken«, sagte Berwyn mit einem Glitzern in den Augen, das Cadogan gar nicht gefiel. »Ich hätte dich im Kerker der Menschen verrotten lassen.« Berwyn war alt, älter als Cadogan, wahrscheinlich mindestens so alt wie Cadfael gewesen war, wenn nicht gar älter, doch sein hohes Alter war ihm wie den meisten Feen nicht anzusehen. Er hielt sich aufrecht, das silberne Haar fiel ihm offen auf die Schultern, und sein heller Blick war klar, berechnend.
Cadogan zwang sich, seinem Blick nicht auszuweichen, obwohl Berwyns Macht in genau diesem Blick lag. »Nun, dann danke ich Nirael«, sagte er mit einem Lächeln und verbeugte sich in ihre Richtung, was ihm einen Grund gab, um endlich Berwyns Blick zu entkommen.
Doch Nirael sah ihn nicht einmal an. Stattdessen hatte sie sich Maral zugewandt, um einige leise Worte mit ihr zu wechseln, die Cadogan jedoch nicht verstehen konnte.
Er erstarrte, als sich Marals blinde Augen direkt auf ihn richteten und geradewegs auf den Grund seiner Seele zu blicken schienen.
»Du hast den Weg verloren«, sagte sie sanft. Es waren dieselben Worte, die Nirael benutzt hatte, als er im Kerker gesessen hatte, doch aus Marals Mund klangen sie plötzlich unheilvoll, bedrohlich, wie ein Urteil, das sie über ihn fällte. Ein Schauer lief ihm gegen seinen Willen über den Rücken.
Sie trat vor, direkt auf ihn zu und er wich unwillkürlich einen Schritt zurück, ehe ihm auffiel, was er tat. Er spürte die Macht, die sich um sie herum regte und er zwang seine Füße an Ort und Stelle zu verharren und nicht wie ein verängstigtes Kind vor ihr davonzulaufen.
»Erst wenn du dich von dem Schatten auf deinem Herzen befreist, wird sich das Land dir wieder öffnen«, intonierte sie in einem unheilvollen Singsang.
Er riss entsetzt die Augen auf und ein Zittern durchlief ihn. Ein Fluch. Das konnte unmöglich sein. Und doch spürte er die Macht ihrer Worte, die ihn mit unnachgiebigem Griff packte, sich um ihn wand, in seine Haut sank und ihm für einen Augenblick den Atem raubte, um ihn schließlich auf die Knie zu zwingen, ehe der Fluch sich in seinem Inneren einnistete wie ein Parasit.
Er krümmte sich um den Schmerz und presste sich die Hände gegen die Brust.
»Was hast du getan?«, keuchte er.
Ihre blinden Augen blickten ihn an, durch ihn hindurch. »Findest du den Weg, findest du zurück«, murmelte sie. Dann wandte sie sich um und ging davon.
»Was hast du getan?«, schrie er ihr hinterher. Er griff nach der Magie, um sie dazu zu zwingen, ihm zu sagen, was der Fluch zu bedeuten hatte, was sie ihm angetan hatte … Doch die Magie antwortete ihm nicht. Er konnte sie spüren, spürte das Land, pulsierend, lebendig und rein, doch es gehorchte ihm nicht.
»Du verfluchte Hexe!«, brüllte er, setzte ihr nach, um sich auf sie zu stürzen, als ihn zwei Krieger bei den Armen packten und ihn zurückhielten. Er kämpfte gegen sie, doch sie waren stärker und besaßen noch ihre Magie und er hatte nichts.
Berwyn trat vor ihn, ein belustigtes Lächeln auf dem Gesicht. Natürlich weidete er sich an Cadogans Schicksal.
Nirael stand neben ihm und hatte den Blick abgewendet, als könnte sie Cadogans Anblick nicht ertragen. Vielleicht war sie auch nicht einverstanden mit dem, was geschah. Vielleicht könnte er das zu seinem Vorteil nutzen.
»Du hast noch nie verstanden, wann es besser ist einzulenken und sein Schicksal zu akzeptieren«, sagte Berwyn.
»Und wer entscheidet über dieses Schicksal? Du etwa?«, zischte Cadogan. »Du bist ein Narr, wenn du glaubst, ich würde einfach klein beigeben. Es ist noch nicht vorbei. Es ist noch lange nicht vorbei.«
Berwyn lächelte noch immer. »Leere Worte. Darin warst du schon immer gut. Ich habe genug von deinem Gejammer«, sagte er fröhlich und nickte den Kriegern zu, die Cadogan mit sich zerrten.
»Was hast du vor?«, rief Cadogan ihm über die Schulter zu, während er versuchte, es den Kriegern so schwer wie möglich zu machen.
Berwyns Lächeln jagte ihm einen Schauer über den Rücken. »Oh, du hast doch nicht etwa geglaubt, wir würden dich frei herumlaufen lassen, oder etwa doch?«
Kapitel 1
»Ich verstehe nicht, warum es nicht heilen will.«
»Meinst du, es breitet sich aus?«
»Ich hoffe nicht, sonst müssen wir am Ende das Bein abnehmen.«
Kian fuhr in die Höhe. »Nein!«
Zwei goldene Augenpaare richteten sich auf ihn und starrten ihn an, bis er sich wieder hinlegte und die Deckenbalken über sich anstarrte, während Rakhanis und Larkin die Wunde in seinem Bein begutachteten, die nach einem Monat noch immer aussah wie am ersten Tag. Kian hatte sich bereits daran gewöhnt, doch Larkin und Rakhanis schienen seine Ansicht nicht zu teilen.
Er biss die Zähne zusammen, als einer der beiden in der Wunde herumstocherte.
»Liegt es daran, dass er seine Kraft mit mir geteilt hat?«, fragte Larkin.
Kian sah auf, als Rakhanis zögerte und dann den Kopf schüttelte. »Unwahrscheinlich. Deine Kraft würde ausreichen, um jede seiner Wunden zu heilen. Nein, dies ist etwas anderes. Ein fremder Zauber.«
Kian lief ein Schauer über den Rücken.
»Ein Feenzauber?«, sprach Larkin seinen Gedanken aus.
Rakhanis zögerte wieder. »Vielleicht.«
»Ich will sie nicht in seiner Nähe haben«, sagte Larkin fest und Kian stimmte ihm zu. Es reichte aus, dass er sich gelegentlich mit ihnen treffen musste, um das neue Bündnis zu besprechen. Er traute den Feen nicht, Bündnis hin oder her.
Rakhanis gab ein Brummen von sich, das Zustimmung oder auch etwas anderes hätte sein können.
»Es muss doch etwas geben, was wir tun können«, sagte Larkin und Kian hörte den Schmerz in seiner Stimme, die Ohnmacht, dass es etwas gab, das er nicht heilen konnte.
Kian hatte genug. »Ich kann damit leben«, sagte er scharf.
Larkin erwiderte finster seinen Blick. »Das solltest du aber nicht. Wir müssen nur herausfinden, was Cadfael angestellt hat.«
»Ihr versucht das nun schon seit Wochen. Es ist mein Bein, ich kann damit leben.« Es war nur gerecht, dass er eine Wunde zurückbehielt, die nicht heilte, wenn so viele gestorben waren.
Rakhanis neigte den Kopf auf die Seite wie ein Vogel und musterte Kian. »Du willst nicht, dass es heilt.« Es war keine Frage.
Kian erstarrte für einen winzigen Augenblick, bevor er sich wieder im Griff hatte.
Larkin wirbelte herum, ein verletzter Ausdruck in seinen goldenen Augen. »Was? Warum?«
Rakhanis hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah Kian mit diesem wissenden Ausdruck in den Augen an. Er sah einfach zu viel.
»Natürlich will ich, dass das Bein heilt«, widersprach Kian und legte den nötigen Nachdruck in seine Stimme. »Allein schon deshalb, weil es eine Schwäche ist, die ich mir im Moment nicht erlauben kann. Aber wenn es das nicht tut, dann ist es eben so. Ich kann damit leben.« Dann schwang er die Beine von dem Tisch, auf dem er gelegen hatte, damit Rakhanis und Larkin seine Wunde erneut inspizieren konnten, und wandte sich ab, um sich anzuziehen.
Eine Hand auf der Schulter ließ ihn in der Bewegung innehalten.
Larkin trat um ihn herum, kniete wortlos vor ihm nieder, um die Wunde an seinem Oberschenkel neu zu verbinden. »Es ist nicht deine Schuld«, sagte er leise, den Blick auf seine Hände gerichtet, deren Berührungen so behutsam waren, dass Kian es kaum aushalten konnte.
Er blickte sich um, doch Rakhanis war nicht länger im Raum, sah auf Larkin herab, der ihn noch immer nicht ansah, und wusste nichts zu sagen.
»Ich wünschte, du würdest nicht versuchen, dich selbst zu bestrafen«, sagte Larkin und erhob sich schließlich, die Hände auf Kians Schultern, sein Blick so voller Mitgefühl, dass Kian die Augen schließen musste, weil er auch das nicht ertragen konnte.
Er drängte sich hastig an Larkin vorbei, zog sich in aller Eile an und wandte sich zum Gehen.
»Kian …«
Kian schüttelte ihn ab, als Larkin versuchte, den Arm um ihn zu legen. Sein Mitgefühl war erdrückend und Kian wollte es nicht.
»Wo willst du hin?«, rief Larkin ihm nach, als Kian aus dem Zimmer marschierte.
Kian sah sich nicht um, als er antwortete. »Ein Königreich regieren.«
~*~
Kian unterdrückte ein Seufzen, als der nächste Bittsteller vortrat und behauptete, die Feen hätten seine Schafe gestohlen. Es ging schon seit Wochen so. Jeden Tag behaupteten etliche Menschen, die Feen hätten ihnen dies oder das gestohlen – Kinder, Schafe, Kühe, Ziegen, den Handspiegel, den die Großmutter vererbt hatte. Am Anfang war Kian den Dingen noch nachgegangen, doch es hatte sich in der Regel als Nichtigkeiten herausgestellt: Der Handspiegel hatte unter dem Bett gelegen, das Schaf war von einem Wolf gerissen worden und die Kuh hatte es nie gegeben. Er hatte wahrhaft wichtigere Dinge zu tun, als sich mit nichtigen Dingen herumzuschlagen. Er dachte an die Berichte und Korrespondenzen, die auf seinem Schreibtisch lagen und wusste nicht, was von allen Dingen dringlicher war. Nimen, weil sie sich von Fengard losgesagt hatten? Kian war fast versucht, Gustavan und Hallin einfach zu ignorieren, ganz gleich wie schwach ihn das erscheinen ließ. Die Herbststürme hatten dieses Jahr besonders früh eingesetzt und es hatte nicht genügend Männer gegeben, um die Ernte rechtzeitig einzuholen. Es würde ein harter Winter werden.
Sein Atem stockte für einen Augenblick, als er eine vertraute Gestalt erkannte, die sich in den Thronsaal schlich und in feinsten Zwirn gekleidet war.
Ihre Blicke begegneten sich über die Menge hinweg und Kian spürte Erleichterung, als sich ein leises Lächeln auf Larkins Lippen ausbreitete. Er trug Kian sein kühles Verhalten offenbar nicht länger nach. Kian lenkte seine Aufmerksamkeit hastig zurück zu dem Bittsteller, der vor ihm kniete, als seine Mundwinkel zuckten. Doch offenbar war er nicht schnell genug gewesen, um seine Reaktion auf Larkin zu verbergen. Einige Höflinge, die in seiner Nähe standen, folgten seinem Blick und kurz darauf ging ein Raunen durch den Saal, als sie Larkin erkannten. Larkin hatte nicht die geringste Ahnung, welche Wirkung er auf den Rest des Hofes hatte. Köpfe drehten sich zu ihm um, doch er hatte nur Augen für Kian. Kian hoffte, er würde kommen und seinen Platz neben Kian einnehmen, doch das tat er nicht. Er blieb ruhig am Rande der Menge stehen, als wäre er nur ein weiterer Bittsteller.
Kian war versucht, einfach aufzustehen und den Tag für beendet zu erklären – er war König verdammt, er sollte tun und lassen können, was er wollte –, doch stattdessen blieb er, wo er war, hörte sich die nächste Bitte an und warf Larkin gelegentlich einen Blick zu.
Der Tag schien kein Ende nehmen zu wollen und Kians Laune war auf dem Tiefpunkt, nachdem der letzte Bittsteller gegangen war. Seine Leibgarde umringte ihn, sobald er vom Thron herabstieg. Kian hatte Larkin irgendwann aus den Augen verloren und er vermochte ihn auch jetzt nicht ausfindig zu machen, was seine Laune nur noch weiter trübte. Kian konnte es Larkin nicht einmal verdenken, dass er wieder verschwunden war. Hof halten gehörte zu den ermüdendsten Aufgaben, für die Kian verantwortlich war. Vielleicht könnte er Boren darin schulen, an seiner Statt zu handeln.
Die Wachen wiesen jeden ab, der sich ihm näherte, und sosehr er es auch hasste, auf Schritt und Tritt verfolgt zu werden, so begrüßte er es doch in diesem Augenblick, denn er gelangte unbehelligt zu seinem Arbeitszimmer. Er schloss die Tür hinter sich und lehnte sich mit einem Seufzen dagegen und richtete sich dann abrupt auf, als er sah, dass er nicht allein war.
Offenbar war Larkin nicht, wie Kian angenommen hatte, in den Wald zurückgekehrt, denn er stand am Kamin und beobachtete Kian mit einem sanften Lächeln, das wie Balsam für Kians müde Seele war.
»Euer Majestät«, sagte Larkin, als Kian ihn bemerkte, und verbeugte sich mit einem schalkhaften Ausdruck in den Augen.
Die Erleichterung ließ Kian schwach werden und trotz seiner Müdigkeit spürte er, wie ein Lächeln an seinen Mundwinkeln zupfte. »Eure königliche Hoheit«, erwiderte er und beobachtete mit Belustigung, wie Larkin sich abrupt aufrichtete und Kian aus schmalen Augen ansah. Er hasste es, mit seinem Titel angeredet zu werden, und es war so leicht, ihn damit aufzuziehen.
Eine Weile standen sie einfach so da und betrachteten sich gegenseitig, als hätten sie sich nicht erst vor kurzem gesehen. Doch ihre Zeit zu zweit war noch immer selten und knapp bemessen und Kian wollte die Gelegenheit auskosten, solange er konnte.
Larkin schlenderte zu Kians Schreibtisch, der zwischen den großen Bogenfenstern stand, die auf den Schlosshof blickten, und auf dem sich Berichte und Korrespondenzen stapelten. Noch mehr Arbeit, die auf Kian wartete.
»Wie ich hörte, steht Ihr in Gefahr, von Eurer Korrespondenz verschlungen zu werden«, sagte Larkin, nachdem er sich in dem hochlehnigen Stuhl hinter dem Schreibtisch niedergelassen hatte. Er hatte die Fingerspitzen beider Hände zusammengelegt und musterte Kian mit strengem Blick.
»Du hast ja keine Ahnung«, sagte Kian mit einem Seufzen und rieb sich die Augen. Dann stieß er sich von der Tür ab, ging zu dem gepolsterten Sessel, der nahe am Feuer stand, und ließ sich mit einem weiteren Seufzen hineinsinken. Er schloss die Augen und genoss die Wärme des Kamins. Der Herbst hatte sich mit ungewöhnlicher Kälte angekündigt. Offenbar musste das Wetter den ausgesprochen heißen Sommer wieder wettmachen. »Bist du den ganzen Tag hier gewesen?«, setzte Kian hinzu und sah Larkin an, der ihn noch immer durchdringend musterte.
Es war seltsam, Larkin so hinter seinem Schreibtisch sitzen zu sehen, während er sich mit ihm unterhielt. Larkin wirkte vollkommen fehl am Platz trotz der höfischen Kleidung, die er noch immer trug.
Larkin nickte. »Ich wollte sichergehen, dass mit dir alles in Ordnung ist. Und mich entschuldigen für heute Morgen. Ich wollte dich nicht so bedrängen.«
Kian schüttelte den Kopf. »Du hast nichts falsch gemacht«, sagte er nachdrücklich und spürte Gewissensbisse, als er an seine schroffe Art dachte, mit der er Larkin am Morgen abgekanzelt hatte. Er hatte sich geschworen, dass sie nie wieder im Ärger auseinandergingen. »Ich muss mich entschuldigen.« Er hob eine Augenbraue, als Larkin Anstalten machte, ihm zu widersprechen.
Larkin seufzte und seine Schultern sackten herab. »Ich wünschte, ich könnte mehr tun.« Er trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. »Und ich verstehe nicht, warum ich es nicht kann.«
Kian blickte ins Feuer, das fröhlich im Kamin prasselte und streckte das verletzte Bein aus. Die Hitze des Feuers, so hatte er festgestellt, half die Schmerzen zu lindern. »Ich weiß«, sagte er leise.
Stille senkte sich herab, durchbrochen nur durch das Knacken der Holzscheite und das Prasseln der Flammen.
»Du hättest nicht meinetwegen bleiben müssen«, sagte Kian irgendwann, getrieben von seinem schlechten Gewissen.
»Ich weiß«, erwiderte Larkin. »Doch wenn ich gelegentlich meinen Gemahl zu Gesicht bekommen möchte, muss ich wohl mehr Zeit in der Burg verbringen.«
Das schürte die Gewissensbisse nur noch mehr. Kian wusste, wie unwohl sich Larkin in der Burg fühlte. »Es tut mir leid.«
Larkin schüttelte den Kopf. »Ich wusste, worauf ich mich einließ, als ich den Kronprinzen heiratete.«
»Wusstest du das wirklich?«, fragte Kian leise.
Larkins Blick war scharf und Kian beobachtete ihn, als er abrupt aufstand, den Raum durchquerte und vor Kian stehen blieb. Er musterte Kian einige Herzschläge lang stumm. Kian spürte seinen Ärger durch das Band und wappnete sich innerlich, als Larkin sich herabbeugte und Kian mit einem Kuss überraschte. »Du Narr«, sagte er.
Dann zog er sich den Schemel heran, der vor dem Sessel stand und eigentlich als Fußschemel gedacht war, und setzte sich, sodass Kian nun auf ihn herabblickte. Kian wusste nicht, ob Larkin es einfach gleichgültig war oder ob er den Zweck des Möbelstücks nicht kannte. Er wirkte so wild und frei, wie er vor Kian mit seinem wilden Haar saß und Kian konnte noch immer seinen Kuss auf seinen Lippen schmecken. Kian streckte die Hand nach Larkin aus und gab seinem Verlangen nach, Larkin zu küssen und sein Gewissen gänzlich zu ignorieren. Wer wusste schon, wann er das nächste Mal dazu Gelegenheit hatte.
Larkin löste sich als Erster von ihm. Seine Finger glitten über Kians Wange und kratzten durch seinen Bart. Larkin schien aus irgendeinem Grund fasziniert von Kians Bart zu sein, auch wenn er sich immer wieder darüber lustig machte. »Du siehst müde aus«, sagte er und ließ seine Hand in Kians Nacken gleiten. »Das ist der einzige Grund, weshalb ich mir erklären kann, dass du eine so dumme Frage stellst.« Seine Finger waren so warm.
»Es ist viel Arbeit ein Königreich zu regieren.« Kian hatte nicht gewusst, wie viel Arbeit. Er hatte seit Jahren einige der Geschäfte von seinem Vater übernommen, doch nun, da alles auf ihm lastete, wusste er nicht mehr, wie er Herr der Lage werden sollte. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn er das Reich in Friedenszeiten übernommen hätte, doch die Zeiten waren alles andere als friedlich.
»Nimen?«, fragte Larkin und legte den Finger direkt in die Wunde.
Kian ließ seinen Kopf gegen Larkins Schulter sinken. »Nimen, Irtaling und der ganze Rest des Königreichs. Ganz zu schweigen von verschwundenen Schafherden und … allem anderen.« Er machte eine vage Geste. »Du warst da. Du hast sie gehört.«
Larkin schnaubte. »Versuchen die Leute noch immer, dir Gold abzupressen?«
Kian zuckte die Achseln und sah auf. »Es wird ein harter Winter, nachdem so viele Männer gestorben sind.« Sein Blick wanderte wie von selbst zu dem Gemälde, das über dem Kamin hing und seine Eltern zeigte. Jung und frisch vermählt. Seine Mutter hielt einen Säugling im Arm. Es war ihm nie aufgefallen, dass sein Vater das Bild in seinem Arbeitszimmer hängen hatte, bis Kian das Königreich und damit auch das Arbeitszimmer übernommen hatte und all die Arbeit, die damit einherging. Und all die Sorgen.
Larkin folgte seinem Blick und schlug dann die Augen nieder. »Ich weiß.« Er küsste Kians Hände, die er in seinen hielt. »Du kannst sie nicht zurückbringen, indem du dich zu Tode arbeitest.« Larkins Stimme war unendlich sanft und in seinen Worten schwang sein eigener Schmerz mit.
»Ich weiß«, sagte Kian und lehnte sich wieder gegen Larkin, der bereitwillig die Arme um ihn schlang.
Sie hielten sich eine Weile gegenseitig in den Armen, ohne ein Wort zu sagen.
»Wo ist unser Sohn?«, brach Kian schließlich die Stille. Er löste sich von Larkin, weit genug, um ihm ins Gesicht sehen zu können, ohne jedoch den Kontakt zu ihm zu verlieren. Kian staunte noch immer darüber, dass sie wirklich und wahrhaftig ein Kind hatten, für das sie verantwortlich waren. Wenn auch ein sehr ungewöhnliches Kind. Bei allem Schmerz durfte er nie vergessen, dass er auch so viel gewonnen hatte, von dem er nie zu träumen gewagt hatte. Einen Gatten, den er liebte, ein Kind, eine Familie, so ungewöhnlich und zusammengewürfelt sie auch sein mochte.
Larkin lächelte wissend, als wüsste er genau, was Kian durch den Kopf ging. »Ich habe unseren Sohn«, Larkin betonte das Wort mit einem Grinsen, »bei deiner kleinen Schwester und ihrer Gouvernante gelassen mit strikten Instruktionen, nichts in Brand zu setzen.«
»Es geschieht längst nicht mehr so oft«, verteidigte Kian den jungen Drachen. Bei der Erinnerung an Luisien regte sich erneut sein schlechtes Gewissen. Sie war sehr still geworden, seit sie die Eroberung der Burg miterlebt hatte. Kian wusste, dass er mehr Zeit mit ihr verbringen sollte, er hatte sich geschworen, dass er für sie da sein würde.
Larkins Kuss riss ihn aus seinen Gedanken. »Hör auf, dir um alles und jeden Sorgen zu machen. Du bist nicht allein für alles verantwortlich. Luisien hat noch ihre anderen Geschwister und Rhis’ Gesellschaft scheint ihr ebenfalls sehr gutzutun. Ich glaube, sie versucht, ihm höfische Etikette beizubringen.«
Das lockte ein Lachen aus Kian hervor. Larkins Lächeln vertiefte sich, als wäre das genau sein Ziel gewesen. Kian schlang die Arme um ihn und genoss seine Wärme, seine Nähe. »Ich weiß nicht, wie Vater alles bewältigt hat«, gestand Kian nach einer Weile.
Larkin lehnte seine Stirn gegen Kians und rieb ihm mit den Händen den Nacken. Kian wusste nicht, ob er Magie benutzte, doch er spürte, wie ein Teil der Anspannung des Tages ihn verließ und auch die Schmerzen in seinen Schläfen, die ein Teil von ihm geworden zu sein schienen, schwächer wurden.
»Kannst du nicht deinem Bruder Dinge abgeben?«, fragte Larkin. »Und ich bin sicher, dass Kathris sich freuen würde, dir zur Hand zu gehen. Sie wirkt auf mich wie eine intelligente Frau.«
»Das tue ich bereits«, sagte Kian müde und versuchte nicht daran zu denken, dass Kathris auch eine Möglichkeit für eine politische Allianz darstellte. Er hasste sich für diese Gedanken, doch er konnte sie auch nicht abschütteln. Wie es schien, war heute einer dieser Tage, an dem jeder Gedanke sich nur um die Dinge drehte, die er nicht tun wollte, aber vielleicht tun musste. Oder sollte.
»Wo bist du schon wieder?«, drang Larkins sanfte Stimme in seine Gedanken.
Kian schüttelte den Kopf und nahm Larkins Hand. »Wie geht es dem Rest unserer Familie?«, fragte er und versuchte sich zu erinnern, wann er Rakhanis und Failan das letzte Mal gesehen hatte. Er sprach häufiger mit Rakhanis als mit Failan. Vielleicht könnte er Rakhanis bitten, Nimen einen Besuch abzustatten. »Wie geht es Failan?«
Larkin hob eine Augenbraue und musterte Kian mit diesem durchdringenden Blick, der bis an den Grund von Kians Seele zu blicken schien. »Ich würde sagen, dass du dich dringend ausruhen musst, aber ich glaube nicht, dass du auf mich hören würdest.«
»Sieh dir den Schreibtisch an, Larkin!«, rief Kian mit einer ausladenden Geste in Richtung des überfrachteten Schreibtisches.
»Ich sehe dich an, Kian. Und was ich sehe, bereitet mir Sorge. Du hast eine Wunde, die nicht heilt, arbeitest dich jeden Tag bis zur Erschöpfung und trotzdem plagt dich dauernd das schlechte Gewissen, dass du nicht genug tust. Auch Könige müssen sich gelegentlich ausruhen. Hast du heute überhaupt etwas gegessen?«
»Du musst mich nicht bemuttern«, schnappte Kian verärgert. Vor allem weil Larkin unglücklicherweise recht hatte und Kian selbst spüren konnte, wie seine Konzentration allmählich nachließ, und er sich zudem tatsächlich nicht daran erinnern konnte, etwas gegessen zu haben. Aber er fühlte sich nicht hungrig. Und es wartete noch immer Arbeit auf ihn.
»Tue ich das?«, fragte Larkin leise.
Kian biss die Zähne zusammen. Wenn er nicht aufpasste, würde er etwas sagen, was er später bereuen würde und das wollte er um jeden Preis vermeiden. Larkin hatte seinen Ärger nicht verdient. »Also, wie geht es Failan?«, wiederholte er seine Frage, um einen ruhigen Tonfall bemüht. »Es interessiert mich tatsächlich.« Das war nicht einmal gelogen. Er hätte gern mehr Zeit gehabt, um sich mit Failan zu unterhalten und ihm all die Fragen zu stellen, die er zu den Greifen hatte. Sie faszinierten ihn, nun, da er wusste, dass sie mehr waren als die Bestien, die sie immer in ihnen gesehen hatten.
»Ich weiß, dass es das tut«, sagte Larkin und da war wieder dieses melancholische Lächeln, das Kian nicht deuten konnte und auch ihre Verbindung gab ihm keinerlei Hinweise. War es ungewöhnlich, dass Kian nach dem Greifen fragte? Kian wusste, dass Failan sich gelegentlich in der Burg aufhielt. Er schien von menschlichen Dingen genauso fasziniert zu sein, wie Kian von den anderen Völkern war. Kian jedoch bekam ihn nur selten zu Gesicht. Er wusste nicht, was Failan trieb. Er war so flüchtig wie der Wind, den er als Gottheit zu verehren schien.
Ein Gedanke kam ihm dann, er wusste nicht woher oder warum, aber er war da und drängte ihn, weil er so zumindest einen Teil seiner Probleme lösen könnte. Er sah Larkin an. »Würdest du sagen, dass Failan gut darin ist, unbemerkt zu bleiben, und ständig Dinge weiß, die er eigentlich nicht wissen sollte?«
Larkin runzelte die Stirn. »Was geht dir nun durch den Kopf?«
Kian lehnte sich mit einem Lächeln zurück, plötzlich sehr angetan von seiner Idee. »Nun, ich könnte gut jemanden mit einem solchen Talent gebrauchen.«
Larkins Augen wurden schmal, als er Kian mit einem Blick fixierte. »Du meinst, jemanden, der für dich spioniert.«
»Nenn es, wie du willst. Aber es gibt nicht viele, denen ich eine solche Position anvertrauen würde und die das nötige Talent mitbringen.« Vielleicht hätte er dann eine Möglichkeit zu verhindern, dass die anderen Herzogtümer Nimens Beispiel folgten.
Larkin dachte darüber nach. »Ich denke, wir müssten ihn fragen. Aber ich glaube, es könnte ihm guttun. Er hadert noch immer mit sich.«
Wie wir alle, dachte Kian.
»Kian«, sagte Larkin, als hätte er Kians Gedanken erraten.
Kian seufzte.
»Ich sage ihm, dass du mit ihm sprechen willst. Aber ich weiß nicht einmal, ob er unsere Schrift lesen und schreiben kann.«
Kian zuckte die Achseln. »So wie ich ihn einschätze, wird er es schnell lernen, wenn er nicht schon damit angefangen hat.«
»Vielleicht«, sagte Larkin und erhob sich. »Und nun wird das Königreich einen Abend ohne seinen König auskommen müssen«, verkündete er und sein Tonfall duldete keinen Widerspruch. »Denn ich erhebe Anspruch auf dich und nein, es ist mir vollkommen gleichgültig, was noch alles zu tun ist, selbst wenn die Welt untergeht und die Schatten sich erheben: Heute Abend gehörst du mir!«
»Selbst wenn die Welt untergeht?«, fragte Kian und ließ sich bereitwillig von Larkin aus seinem Stuhl ziehen.
»Selbst wenn die Welt untergeht«, wiederholte Larkin mit Nachdruck. Seine Miene versprach Verderben für jeden, der auch nur daran dachte, die Welt untergehen zu lassen.
Kian lächelte. Er würde sich seinem Gemahl sicher nicht in den Weg stellen.
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